Bei Ausgrabungen in der Schlüsselstraße in Neuenburg am Rhein1 stießen die Archäologen unter anderem auf eine Verfüllung mit Werkstattbruch aus einer nahegelegenen Töpferei. Das Fundgut dort lässt sich stilistisch über Vergleichsstücke, aber auch durch den historischen Kontext der Zeit zwischen 1600 und 1635 zuweisen.
Das im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung vorgestellte Stück ist eines der wenigen aus dem Neuenburger Konvolut, von dem sich lediglich ein Fragment erhalten hat. Seine Rückseite ist frei von Schmauchspuren.2
Ein Gutteil des Vorsatzblattes der ursprünglich quadratischen Blattkachel hat sich erhalten. Das Innenfeld wird zur Gänze vom Kopf eines älteren Mannes eingenommen. Von seinem Gesicht sind die Augen, die Nase und der Mund deutlich zu erkennen. An diesen Partien setzten in alle Richtungen weisend acht breitlappige Blätter an. Wie das Gesicht selbst sind auch diese streng symmetrisch angeordnet. Die horizontalen und vertikalen Teile des Blattbesatzes ragen mit ihren Spitzen in die breite Rahmenleiste hinein. Diese setzt sich aus einer glatten Kehle, einem glatten Viertelstab und einer einfassenden glatten Leiste zusammen. Die drei Kompartimente des Rahmens sind etwa gleichbreit.
In Format und Bildgestaltung vergleichbar sind Kacheln aus Mainz und Schloss Windeck. Allerdings ist die Blattmaske dort in beiden Fällen als Löwenkopf ausgebildet.
Von den Wilden Leuten zum Green Man
Um das Motiv in einen größeren Zusammenhang zu stellen, bedarf es zuvor der Definition. Im Gegensatz zu den „Wilden Leuten“ ist das Gesicht der Blattmaske, gleich ob menschlicher oder tierischer Natur, körperlos. Ein Halsansatz fehlt. Als zweites Merkmal ist auf Zweige oder Blätter zu verweisen, die dem Kopf zu entwachsen scheinen (Transformer). Hinzukommen können aus dem Mund beziehungsweise dem Maul ragende, weitere Blätter3 oder andere ornamentale Gebilde wie blatt- oder früchtebesetztes Rankenwerk, Füllhörner oder tuchene Festons. Das letztgenannte Kriterium ist jedoch nur bedingt als Ausschlusskriterium zu verstehen.
Die Blattmaske lässt sich als Ausschmückungselement bis in die Antike zurückverfolgen.4 In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zierte sie an exponierter Stelle den Konsolstein des Bamberger Reiters. Als Hybrid, als Mischung von Versatzteilen aus Flora und Fauna, nimmt das Ornament seit jeher eine Sonderstellung ein. Am Übergang zur Renaissance greift ein neuer Typ der Blattmaske Raum. Nun geht ein Gesicht nicht mehr im Pflanzlichen auf. Vielmehr haben wir meist Masken klassischer Prägung vor uns, die lediglich von Blattwerk umrahmt sind. Das Beispiel aus Neuenburg zeigt, dass in spätgotischer Manier ausgebildete Blattmasken auch noch deutlich später in Nutzung sein konnten.
Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert unterliegt der Dekor auf Werken der Kachelkunst einem weiteren Wandel. Anfangs bildfüllend eingesetzt, wird er mehr und mehr Teil eines ornamentalen Patchworks. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wandert die Blattmaske von der Bildmitte an die beiden Seitenränder. Dafür ist es notwendig, den blattverbrämten Kopf ins Profil zu drehen.
Das Wesen der Blattmaske ist schlecht zu umschreiben.5 Ausgehend von der Beschäftigung mit dem „Green Man“, einem heute noch in England lebendigen Phänomen, dem sich Bildende Künste ebenso annehmen wie Literatur und Alltagskultur, wohnt diesen Mischwesen eine naturreligiöse Kraft inne. Sie agieren quasi als Schutzgeister im Hintergrund. Damit erfüllt die Blattmaske eine ähnliche Funktion wie Neidköpfe oder, heute wieder topaktuell, wie Wichtel. Entsprechend nahe stehen diese Bildfindungen den spätgotischen „Wilden Leuten“. In der Renaissance weisen gelegentlich spitz zulaufende Ohren auf eine Übertragung der Wesenseigenschaften auf die Götterwelt der Antike hin. Der Dekor wird mit den ebenfalls spitzohrigen Silenen, die die Entourage des Gottes Bacchus bilden, in Verbindung gebracht.
Vom Bedeutungsträger zum Ornament
Es ist auf die Vielzahl von Variationsmöglichkeiten zu verweisen, in denen die Bildidee umgesetzt wurde. Als zentrales, großflächiges Motiv war die Blattmaske im 15. Jahrhundert in der Schweiz, im Elsass und in Südwestdeutschland nicht unbekannt.6 Dies fand seine Fortsetzung im 16. und 17. Jahrhundert.7
Wesentliches Charakteristikum ist die Ausschmückung mit Roll- und Beschlagwerk, das den Hintergrund für alle weiteren Dekore bildet. Das gegen 1560/70 in den Niederlanden entwickelte Beschlagwerk fand vor 1600 auch in Deutschland Eingang in das Kunsthandwerk8. Wahre Meister in der Verwendung des Ornaments arbeiteten in der Werkstatt des Johannes Vest in Frankfurt am Main.9 Die dort entwickelten Formen bestimmten unter anderem die Prunköfen im Heidelberger Schloss oder in Schloss Windecken.10
Die Vermengung des Sujets mit den Gestaltungsmitteln der Groteske, des Kandelaberdekors und Vasenwerks und auch des Tapetendekors bot ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten. Einer Spielart, dem Tapetendekor mit Maske, ist ein eigener Beitrag gewidmet.
Das Ganze konnte, wie die Blattkachel mit Blattmaske mit früchtebesetzter Krone, eingefasst von Beschlagwerk, in ein hochrechteckiges Format eingebunden werden.11 Auch das Querformat bot sich an.12 Blattmasken bereicherten ornamental geschmückte Gesimskacheln13 ebenso wie hängende Kranzkacheln. Selbst auf Ofenbekrönungen14 und auf Ofenfüßen griff der Dekor Raum. Am Ende der Entwicklung steht eine Blattmaske, die sich in Ornamente aufgelöst hat und als solche kaum noch zu erkennen ist.
Blattmasken finden sich in Neuenburg am Rhein auch auf Gesimskacheln mit fallendem Karnies mit glatter Kehle über einem einfach abgetreppten, glatten Halbstab. Als Hauptdekor bestimmt ein Fries mit Rollwerk mit einander zugewendeten Löwenköpfen an den Enden das Bildfeld. Die Besätze flankieren eine Blattmaske mit Löwenkopf, aus dessen Mund früchtebesetzte Füllhörner wachsen. Um die Brillanz der grünen Glasur zu gewährleisten, wurde die aus rotbrennendem Ton gefertigte Kachel weiß behautet. Bei allen zwölf im Fundkonvolut von Neuenburg nachweisbaren Fragmenten dieser Ausformung fehlen Verschmauchungen auf der Kachelrückseite. Fehler auf den reliefierten Vorsatzblättern wie ungleichmäßiger Glasurauftrag und blasige Aufwerfungen weisen die Stücke dem Werkstattabfall zu. Vergleichbare Kacheln finden sich in größerer Anzahl in Villingen. Hier wäre weniger an einen direkten Objekttransfer von in Neuenburg gefertigten Kacheln zu denken. Vielmehr könnte die Werkstatt des Nachfolgers von Hans Kraut auf dem gleichen überregionalen Markt einen Teil seiner Model bezogen haben wie der Neuenburger Töpfer.
Harald Rosmanitz, Partenstein 2025
Weiterführende Literatur:
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- Das Fehlen eines Nutzungsnachweises in Form von Schmauchspuren ist nicht ausschlaggebend, das Fragment gesichert als Fehlbrand anzusprechen, zumal weitere Schadenmerkmale nicht festzustellen sind (vgl. dazu Hufnagel 2011).
- Corrigan 2019.
- Zur Ikonographie der Blattmaske siehe Harrington 2023; Keller 1941.
- Zur Ikonographie der Blattmaske siehe Harrington 2023; Keller 1941.
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- Kulling 2010, S. 117, Kat.-Nr. 35; Lithberg 1932, Taf. 183B.