Vögel werden auf reliefierten Ofenkacheln schon sehr früh als eigenständiges Motiv aufgegriffen. Eine besondere Rolle kommt hierbei den Halbzylinderkacheln mit durchbrochenen Vorsatzblättern vom Typ Tannenberg zu.1 Nahtlos übertrugen die Töpfer den dort entwickelten Besatz auf Halbzylinderkacheln mit Kielbögen.2 Im Zentrum der vorliegenden Betrachtung steht die Übernahme des Dekors auf Blattkacheln. Sie sind der Motivgruppe der Tapetenkacheln zuzuweisen. Ihnen können in Südwestdeutschland vergleichbar gestaltete Reliefs vorangestellt werden, die Halbzylinderkacheln mit geschlossenen Vorsatzblättern zierten.
Die Positionierung des Dekors in den beiden oberen Zwickeln der Halbzylinderkacheln gab die Anordnung des Vogelmotivs als Fries vor. Bei den Blattkacheln, die vornehmlich in zueinander versetzt angeordneten Zeilen an den Feuerkästen von Öfen platziert waren, entfällt dies. Gemeinsam mit dem Kielbogen wird das Motiv zum Versatzstück eines ornamentalen Grundrauschens. Einzelne Elemente voneinander zu trennen bedarf einer genauen Betrachtung.
Das Villinger Model
Den Zugang zu dem Dekor mit all seinen Facetten erlaubt ein Kachelmodel, das im Franziskanermuseum in Villingen aufbewahrt wird.3 Die annähernd quadratische Negativform zur Fertigung reliefierter Vorsatzblätter ist dorsal durch zwei Stege in vier quadratische Felder aufgeteilt. Als Hauptgliederungselement fungiert auf der Vorderseite der Keramik ein mit jeweils zwei nach innen und nach außen weisenden Krabben besetzter Kielbogen. Der Maßwerkbesatz ist als glattes, einfach abgetrepptes Band ausgebildet. Dies schwächt seine Dominanz, wie sie die spätgotischen Ausprägungen des Motivs maßgeblich bestimmten, deutlich ab.4 Der Dekor inner- und außerhalb des Hauptgliederungselements ist streng spiegelsymmetrisch und primär floral angelegt. Unterhalb des Kielbogens setzt eine, einem Blütenkelch entwachsende Blüte mit ausladendem Fruchtstand an. An deren Spitze wiederholt sich das Blütenmotiv, dann allerdings en miniature. Die breitlappigen, die Blüte flankierenden, nach außen weisenden Blätter finden ihre Fortsetzung nach unten in ebenso gestalteten, annähernd horizontal ausgerichteten Gebilden. Der gesamte Aufbau der Blüte erschloss sich dem Betrachter erst bei einem mehrzeiligen Kachelbesatz, wobei die Zeilen dann um eine halbe Kachelbereite versetzt zueinander angeordnet sein müssen. Die Vögel, eindeutig handelt es sich dabei um Adler, sind ins Halbprofil gedreht. Mit einem ihrer beiden Füße halten sich die mit ihrer Brust zur Bildmitte weisenden Tiere am Kielbogen fest.
Eine mehr als zweihundertjährige Motiventwicklung
Bei kontinuierlicher Rezeption der wesentlichen Dekorelemente hat das Motiv zwischen 1500 und 1700 zahlreiche Modifikationen durchlaufen. Dies ist selbst für Bebilderungen von Ofenkeramik ein ungewöhnlich langer Zeitraum, innerhalb derer eine Bildidee scheinbar nichts an Aktualität verlor. Wir können davon ausgehen, dass die obere Hälfte einer Halbzylinderkachel mit einem Zwickelbesatz mit Vögeln in blattbesetztem Astwerk als Ausgangsbasis diente. Innovativ war die Hinzufügung der von dem Kielbogen umschlossenen Blüte. Diese wiederum greift in ihrer Gestaltung auf das Werkschaffen des Meisters E.S. zurück.5 In der spätgotischen Manier wurden anfangs in Zürich6 und später beispielsweise in Bern7, Esslingen und in Neuenburg am Rhein Blattkacheln mit entsprechen Reliefs gefertigt und genutzt. Als Zeitfenster für diese Entwicklung ist als terminus ante quem die Verfüllung der Berner Münsterplattform vor 1531 zu benennen. Ein Fragment aus der vermutlich bereits am Ende des 15. Jahrhunderts tätigen Werkstatt in der Pliensaustraße 9 in Esslinge8 ist über die inschriftliche Datierung eines Artefakts aus der Spätphase der dortigen Produktion bald nach 1534 zeitlich einzuordnen. Allen aufgeführten Kacheln gemeinsam ist die Ausbildung des verschlungenen, vergleichsweise schmalen Blattbesatzes. Dieser ist ein typisches Gestaltungselement der Spätgotik am Oberrhein.
Tapetendekor mit Blattranken und Vögel zwischen einem Kielbogen
Ein Model aus Schwäbisch Hall und polychrome Blattkacheln aus Speyer stehen am Anfang einer Entwicklung hin zu einem Ornament, dessen Bildwirkung aufs Ganze gesehen abzielte. Die Blätter werden dabei immer breiter und fleischiger. Sie erdrücken die auf den Kielbögen sitzenden Vögel geradezu. Als Vertreter dieser Modifikationen in ihrer ausgeprägten Form ist auf Model und Kacheln aus Kirchheim/Teck, aus Villingen sowie von der Burg Hohenschramberg bei Schramberg zu verweisen.
Eine Sonderstellung nimmt eine polychrom glasierte Kachel ein, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt wird. Bei ihr fehlt der Nasenbesatz des Kielbogens ebenso wie die von diesem umschlossene Blüte. An ihrer Stelle sitzt ein Meereswesen, ein Triton. Buddha-gleich bildet es das Hauptaugenmerk des Dekors.
Blattkacheln mit einem Tapetenmuster mit Kielbogen und Vögeln sind bislang aus Südwestdeutschland und der Nordschweiz bekannt. Zwischen Speyer und dem schweizerischen Fribourg waren nach Aussage der archäologischen Befunde mindestens sechs Werkstätten mit der Fertigung solcher Reliefs betraut. Sie verteilten sich über das gesamte bislang bekannte Verbreitungsgebiet.
Harald Rosmanitz, Partenstein 2025
Weiterführende Literatur:
Franz-Berdau, Rosemarie (1961): Graphische Vorlagen zu den Kachelreliefs des Ofens auf der Hohensalzburg. In: Keramos. Zeitschrift der Gesellschaft der Keramikfreunde e.V. Düsseldorf 5, S. 3–21.
Minne, Jean-Paul (1977): La céramique de poêle de l’Alsace médiévale. Strasbourg.
Rosmanitz, Harald (1994): Esslingen als Zentrum spätgotischer Kachelproduktion. In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1994, S. 295–299.
Roth Kaufmann, Eva; Buschor, René; Gutscher, Daniel (1994): Spätmittelalterliche reliefierte Ofenkeramik in Bern. Herstellung und Motive. Bern: Staatlicher Lehrmittelverl (Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern).
Schmitt-Böhringer, Astrid (2008): Burg Tannenberg bei Seeheim-Jugenheim, Lkr. Darmstadt-Dieburg. Eine spätmittelalterliche Ganerbenburg im Licht der archäologischen Funde. Bonn: Habelt (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie, 151).
Schnyder, Rudolf (2011): Mittelalterliche Ofenkeramik. Bd. 2: Der Züricher Bestand in den Sammlungen des Schweizerischen Nationalmuseums. Zürich.
Unger, Ingeborg (Hg.) (1988): Kölner Ofenkacheln. Die Bestände des Museums für Angewandte Kunst und des Kölnischen Stadtmuseums. Köln.
Wagner, Jasmine (2012): Der Ofen in der Goldenen Stube der Festung Hohensalzberg. Teil I: „The Dark Side(s)“. Fragen zu Standort und historischer Renovierung des Festungsofens sowie Vorstellung des polychrom glasierten Kachelensembles an dessen Rückwand. In: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 28, S. 33–80.
- Schmitt-Böhringer 2008, Muster2-14; Unger 1988, S. 65-70, Kat.-Nr. 10-21.
- Minne 1977, S. 178-179, Kat.-Nr. 105. Siehe dazu „Motive: Halbzylinderkachel mit Vögeln“.
- Villingen, Franziskanermuseum, Inv.-Nr. 03351 (II f 29,2). H. 20,2 cm. Br.20,3 cm, T. 3,1 cm.
- Dies ist bei der Gegenüberstellung eines älteren mit einem jüngeren, jeweils aus Zürich stammenden Stücks klar erkennbar (Schnyder 2011, S. 382-383, Kat.-Nr. 327-328). Aus dem südwestdeutschen Kontext wird ersichtlich, dass Rudolf Schnyder die späte Variante mit „ca. 1520“ deutlich zu früh datiert haben dürfte.
- Franz-Berdau 1961; Wagner 2012, S. 59-60.
- Schnyder 2011, S. 382, Kat.-Nr. 327.
- Roth Kaufmann et al. 1994, S. 164-165, Kat.-Nr. 327-328.
- Rosmanitz 1994.