Pfarrer Großmeyer und die Raerener

Notizen zur Sozialstruktur eines Töpferdorfes am Ende des 17. Jahrhunderts

von Ralph Mennicken, Raeren

In der Welt des Rheinischen Steinzeugs spielt das Raerener Steinzeug eine bedeutende Rolle. Raeren ist heute eine Gemeinde mit ca. 10.000 Einwohnern, gelegen in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, an der Grenze zu Deutschland und nahe der Stadt Aachen.

Geographische Gegebenheiten

Wenn man von Raerener Steinzeug spricht, muss man vorausschicken, dass dies, im Gegensatz zu anderen Zentren, nicht zentral an einem bestimmten und klar einzugrenzenden Raum produziert wurde. Die heutige Gemeinde bestand bis ins 18. Jahrhundert hinein aus vielen kleinen Weilern, die zusammenhängend durch die Bank Walhorn verwaltet wurden. Zu den damaligen Produktionszentren muss man außerhalb des heutigen Dorfes Raeren die Weiler Hauset, Eynatten, Astenet, Merols, und in einer frühen Phase auch die Produktion der Aachener Töpfer zählen. Selbst das eigentliche Dorf Raeren, wie man es heute kennt, setzte sich aus zwei sogenannten „Quartieren“ zusammen: dem Quartier Raeren, das den älteren Besiedlungsteil darstellt, und dem Quartier Neudorf. Diese wiederum waren in verschiedene Siedlungskerne untergliedert, die von Wald- und Wiesenlandschaft getrennt und nur durch Wege miteinander verbunden waren. So entstand eine recht großflächige Steinzeugproduktion mit Schwerpunkten in insgesamt zwei von fünf Weilern des Quartiers Raeren und vier von fünf Weilern in Neudorf.

Quellenlage

Die Quellenlage zum Raerener Steinzeug ist leider wenig ergiebig, zumindest was die überlieferten Schriftquellen angeht[1]. Das erste Schriftstück mit einem direkten Bezug – es handelt sich dabei um einen Erlass der Erzherzöge Albert und Isabella, die der Raerener Töpferzunft Innungsstatuten genehmigten – datiert aus dem Jahr 1619, also einer Zeit, als die Blütezeit der Raerener Töpferei in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerade ihr Ende findet. Aus dieser Blütezeit können nur Gerichtsakten der Bank Walhorn zu Rate gezogen werden. Diese weisen jedoch nur einen sehr bruchstückhaften Bezug zur Raerener Töpferei auf und verlangen teils recht schwierige und subjektiv bleibende Transferleistungen von den Bearbeitern. Hingegen sind aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert eine Reihe von interessanten Akten erhalten, darunter Protokolle von Innungsversammlungen, die neuen Statuten der Innung aus dem Jahr 1760, weitere gesetzliche Regelungen, beispielsweise die Tonförderung betreffend und anderes.

Eines der interessanteren Dokumente hat wiederum nur einen indirekten Bezug zur Raerener Töpferei, bietet aber bei näherer Betrachtung tiefe Einblicke in die sozialen Strukturen des Dorfes am Ende des 17. Jahrhunderts, als die Töpferei noch relativ aktiv ist.

Es handelt sich dabei um ein Einwohnerverzeichnis, das der Raerener Pfarrer Peter Jakob Großmeyer[2] seit seinem Amtsantritt in Raeren im Jahre 1693 anlegte. Das Dokument hat übrigens eine bewegte Geschichte hinter sich, wurde mehrfach bearbeitet und blieb dann lange Zeit verschwunden, bis es vor zwei Jahren wieder auftauchte.[3]

Was ist nun so interessant an diesem Dokument? Nun, Pfarrer Großmeyer ist durch die verschiedenen Weiler gewandert, hat alle dort lebenden Hausverbände besucht und ihre Zusammensetzung detailliert aufgeschrieben: Namen und Vornamen der Bewohner, Alter und Berufstätigkeit. Zwar sind nicht alle Angaben immer komplett und an einigen Stellen ist es wohl auch zu Verwirrungen und Verwechslungen gekommen. Dennoch gibt dieses Dokument einen überaus aufschlussreichen Einblick in die Zusammensetzung der damaligen Dorfgemeinschaft.

Politische und wirtschaftliche Zeitumstände

Ehe ich mich näher mit den Details dazu beschäftige, ist es unumgänglich, die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Umstände der Zeit näher zu beleuchten. Die Blütezeit der Raerener Töpferei situiert sich, wie bereits gesagt, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Bereits ab den 1590er Jahren wandern erste Raerener Töpfer in den Westerwald aus, wahrscheinlich aus Konkurrenzgründen.

Das 17. Jahrhundert war dann weitestgehend von Krieg und Zerstörung geprägt: Nach dem Ausbruch des 30-jährigen Krieges im Jahr 1618 sind zunächst ständige Einquartierungen, Kriegssteuern und Furagelieferungen (Heu und Stroh) für die Truppen des Herzogs von Limburg die Folge. 1635 und 1636 wird die Gegend von der Pest heimgesucht, 1646 wird berichtet, dass in Eupen, dem nächst größeren Ort und heute „Hauptstadt“ der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, mehr als 100 Häuser bis auf den Grund abgebrochen und die meisten Einwohner fortgelaufen sind. Zwei Drittel der Bewohner der Bank Walhorn sind zu diesem Zeitpunkt ausgewandert.[4] Am 20. Februar 1647 wird Raeren, kurz vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges von lothringischen Truppen überfallen. Doch auch mit dem Ende des 30jährigen Krieges finden die Dörfer keine Ruhe. Ich könnte hier noch weitere Einzelheiten aufzählen, vor allem über die Kriegszüge des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV, die durch unser Gebiet führten, doch das würde den zeitlichen Rahmen sprengen. Tatsache ist jedenfalls, dass im Jahre 1693, als Pfarrer Großmeyer sein Einwohnerverzeichnis erstellt, die Landesregierung eingestehen muss, dass nicht die Hälfte der Häuser der Bank Walhorn, zu der unsere Töpferdörfer gehörten, übrig geblieben ist, dass alle Mühlen zerstört und Handel und Gewerbe vernichtet sind.[5] Dies also ist die Situation, die wir nun näher anschauen wollen, wobei ich nicht näher auf den allgemeinen sozialen und kulturhistorischen Kontext des ausgehenden 17. Jahrhunderts eingehen möchte, den ich als allgemein bekannt voraussetze[6]. Falls nicht, kann er in der Publikation des Einwohnerverzeichnisses[7] nachgelesen werden.

Atypische Sozialstruktur

Bei detaillierter Analyse des Dokumentes zeichnet sich jedenfalls ein Bild des Dorfes ab, das vollkommen atypisch für diese Zeit ist und das auf relativ hohe wirtschaftliche Selbständigkeit und Selbstverwaltung schließen lässt. Die beiden Quartiere Raeren und Neudorf weisen im Jahr 1693 eine Gesamteinwohnerzahl von 1.197 Personen auf, die sich auf 239 Haushalte verteilen. Raeren ist dabei mit 657 Einwohnern und 129 Haushalten etwas größer als Neudorf mit 540 Einwohnern in 110 Haushalten. Die durchschnittliche Haushaltsgröße beträgt in Neudorf 4,91 Personen und in Raeren 5,09 Personen, wobei diese Mittelwerte allerdings extreme Schwankungen zwischen 1 und 17 verdecken. Insgesamt sind also 5,01 Einwohner pro Haushalt zu verzeichnen. Dies liegt etwas höher als bei bekannten Vergleichswerten, beispielsweise in Süddeutschland. Ein Grund dafür könnte die hohe Zahl an Handwerkern und Fuhrleuten sein, die das Dorf prägten, im Gegensatz zu den rein bäuerlich geprägten Vergleichsdörfern, die mehr Gesinde aufweisen. Im allgemeinen geht man aber auch davon aus, dass die Haushaltsgröße mit der Siedlungsdichte einher geht: Weit abgelegene Einödhöfe waren auf mehr arbeitsfähige Personen angewiesen als die Haushalte im Dorf selbst, die in verstärktem Maße auf Nachbarschaftshilfe zurückgreifen konnten. Hier spielt wohl auch die Weilerstruktur Raerens eine Rolle, die nichts anderes darstellt als eine Ansammlung von mehreren, nahe beieinander liegenden Orten mit jeweils hoher Siedlungsdichte.

Kinderzahl

Auch die Kinderzahl ist interessant, wobei übrigens häufig auch außer Haus lebende Kinder noch zum Haushalt gezählt wurden und daher in die Zahlen mit einfließen. In Neudorf gab es pro Haushalt einen Durchschnitt von 2,62 Kindern, in Raeren waren es 2,71 und insgesamt also 2,67. Dies entspricht den allgemein bekannten Normen und sagt nicht aus über die Zahl der Geburten, die in der Regel wesentlich höher liegt; die Kindersterblichkeit war recht hoch.

Setzt man nun die bisherigen Werte in Relation zueinander, so muss man davon ausgehen, dass der Anteil des Dienstpersonals recht gering war: Die eigentliche Kernfamilie beträgt im Durchschnitt 4,67 Personen (Eltern + 2,67 Kinder) und unterscheidet sich damit nur geringfügig vom Gesamthaushalt mit durchschnittlich 5,01 Personen.

Dies wiederum bestätigt unsere bisherige Annahme, dass vor allem die Töpfereibetriebe, die wohl am ehesten auf externes Personal angewiesen waren, reine Familienbetriebe waren. So tauchen denn auch im Einwohnerverzeichnis insgesamt nur zwei Personen auf, die als „Töpfergehilfe“ bezeichnet werden. Diese Annahme stimmt ebenfalls mit der strengen Zunftordnung überein, die ab 1619 offiziell das Leben der Raerener Töpfer bestimmte, aber schon mehr als 50 Jahre vorher in Gebrauch war. Diese Innungsstatuten untersagten es den Raerener Töpfern, Fremde in ihre Reihen aufzunehmen. Eine Aufnahme in diese geschlossene Zunft war in der Regel nur durch Familienzugehörigkeit möglich.

Berufsgruppen

Unter Weglassung weiterer interessanter Schlussfolgerungen soziologischer Art wollen wir uns nun den einzelnen Berufsgruppen im Dorf zuwenden. In der Regel war das Dorf der frühen Neuzeit vom landwirtschaftlichen Leben und somit vom Bauernstand geprägt, der sich wiederum in Klein- und Großbauern aufgliederte. Die Bauern bildeten in den meisten Dörfern die oberste soziale Schicht und machten im Durchschnitt rund 35% der Bevölkerung aus. In Raeren sind es 1693 gerade einmal 9,3%. Den höchsten Anteil im Dorf haben eindeutig die Töpfer mit 20,1% der Einwohner, darauf folgen die Fuhrleute mit 11,5% und die Tagelöhner, ebenfalls mit 11,5%. Alle anderen Berufe, also andere Handwerker, Heimarbeiter, Adlige und nicht bekannte Berufe betragen 47,5% der Bevölkerung, was wiederum den Durchschnittswerten entspricht. Hieraus resultiert, dass die landwirtschaftliche Struktur in Raeren weit zurückgestellt ist zugunsten der handwerklichen Struktur, die jedoch eher einer städtischen Lebensweise entspricht. Die Tagelöhner, deren Anteil im Allgemeinen zwischen 13 und 23% schwankt, bildeten die unterste soziale Stufe einer Dorfstruktur. Sie lebten in der Regel von der Bewirtschaftung eines kleinen Flecken Landes, verdienten sich ihr Zubrot jahreszeitenabhängig durch Arbeit auf den größeren Höfen und waren in der Regel sehr vielseitig tätig.

Da ihr Bevölkerungsanteil in Raeren nur wenig unter den allgemein bekannten Durchschnittswerten liegt, gleichzeitig aber der Anteil der Bauern wesentlich geringer ist, muss man davon ausgehen, dass diese Tagelöhner in der Hauptsache für die Töpfereibetriebe tätig waren. Unqualifizierte Arbeiten gab es hier in ausreichendem Maße zu verrichten, beispielsweise in der Tonförderung oder bei der Beschaffung der Unmengen von Brennholz, die in den Öfen verfeuert wurden. Auch als Hilfskräfte für die zahlreichen Fuhrleute werden sie wohl tätig gewesen sein. Diese sind eine Berufsgruppe, die im durchschnittlichen frühneuzeitlichen Dorf überhaupt nicht als repräsentativer Bevölkerungsanteil auftaucht. Lediglich in den Städten sind sie zahlreich vertreten, dort aber eher als selbständige Kaufleute, denn als ausführende Transportarbeiter. Der hohe Anteil in Raeren verwundert nicht und hängt natürlich mit der Keramikproduktion zusammen, die im Gegensatz zu Frechen und Siegburg beispielsweise über weite Strecken auf dem Landweg transportiert werden musste.

Familienstrukturen

Weitere interessante Erkenntnisse ergeben sich aus einer Betrachtung der Familienstrukturen, getrennt nach Bevölkerungsgruppen. Im Allgemeinen ist es so, dass die Bauernhaushalte die größte Personenzahl aufweisen, nicht so jedoch in Raeren. Die Bauernhaushalte bestehen hier aus durchschnittlich 5,84 Personen, die Töpferhaushalte jedoch aus 6,34 Personen. Wesentlich kleiner waren die Familien der Fuhrleute mit 4,93 Personen und die der Tagelöhner mit 4,31 Personen. Gleiches gilt für die Kinderzahl, die vor allem diese Verhältnisse bestimmt. Ein Töpferhaushalt hatte durchschnittlich 3,95 Kinder, also 1,28 mehr als der allgemeine Durchschnitt. Bei den Bauern sind es immerhin noch 3,11 Kinder, während im Haus des Fuhrmannes 2,54 Kinder leben und bei den Tagelöhnern sind es gerade noch 2,13. Diese großen Unterschiede belegen, dass die Töpferfamilien trotz der widrigen Zeitumstände noch einen relativ hohen Wohlstand aufzuweisen hatten. Im Umkehrschluss dürfte die Kindersterblichkeit durch den relativen Wohlstand und die besseren Lebensverhältnisse bei ihnen geringer gewesen sein. Andererseits waren die Töpfer jedoch auch auf viele Kinder angewiesen, mussten diese doch in der häuslichen Produktion mitarbeiten, da auswärtige Hilfskräfte durch die Innungsstatuten ausgeschlossen waren.

Siedlungsstrukturen

Da Pfarrer Großmeyer auch die einzelnen Weiler oder Gehöfte und Wohnorte immer genauestens bezeichnet hat, kann man aus seinem Einwohnerverzeichnis ebenfalls recht genau die Siedlungsstrukturen des damaligen Dorfes ablesen. Wie bereits erwähnt, teilte sich das heutige Dorf in zwei Quartiere, die eine getrennte weltliche Verwaltung hatten, aber eine gemeinsame Pfarre bildeten. Ohne hier näher auf die Größe der einzelnen Weiler einzugehen, sei es mir doch erlaubt, die sozialen Strukturen der beiden Quartiere miteinander zu vergleichen. In Neudorf arbeiteten im Jahr 1693, hundert Jahre nach der Blütezeit der Töpferei und unter den schon erwähnten politischen und wirtschaftlichen Umständen, immerhin noch 21 Töpferfamilien, was 19% der Haushalte ausmacht. Im älteren Ortsteil, der auch die ältere Töpfertradition aufzuweisen hat, sind es nur noch 17 Familien und somit 13% der Haushalte. In Neudorf gibt es außerdem 13 Fuhrmannsfamilien, was 12% der Haushalte ausmacht. Dies ist in Raeren ähnlich mit 15 Familien, die ebenfalls 12% der Haushalte ausmachen. Betrachtet man die Situation in den einzelnen Weilern näher, so lässt sich vor allem für Neudorf eine hohe räumliche Nähe zwischen Töpfern und Fuhrleuten und teilweise auch eine deutliche Vermischung der Wohnorte feststellen. Dies ist im älteren Ortsteil Raeren etwas anders, wo es klare räumliche Abtrennungen zwischen den Berufsgruppen gibt und die Ansiedlung der Töpfer in einem relativ eng umrissenen und fast zusammenhängenden Bereich zu finden sind. Zahlreiche Scherbenfunde belegen übrigens, dass dieser Situation im Jahr 1693 eine mehr als 200 Jahre alte Struktur zugrunde liegt, während die Scherbenfunde in Neudorf auf einen Produktionsschwerpunkt ab etwa 1580 hinweisen.

Die Fuhrleute sind in Raeren zwar über alle Weiler verteilt, doch sind sie eindeutig außerhalb der eigentlichen Töpfereibereiche angesiedelt. Noch deutlicher werden diese Unterschiede, wenn man die Gruppe der Tagelöhner hinzuzieht und deren Wohnorte analysiert. Auch hier scheint es in Neudorf wenig Berührungsängste zu geben, während in Raeren ganze Weiler vor allem von Tagelöhnern besiedelt wurden und „Ghetto“ – ähnliche Strukturen bilden, in denen weit und breit kein einziger Töpferbetrieb zu finden ist. Dies zeigt sich übrigens auch im Originaldokument des Pfarrers Großmeyer, der in diesen Weilern wesentlich weniger sorgfältig notierte und offensichtlich auch häufige Zuordnungsprobleme bei einzelnen Personen und Familien hatte. Die Bauernfamilien sind übrigens in beiden Quartieren weitestgehend an den Rand der Besiedlung gedrängt und bewirtschafteten in der Hauptsache große Einödhöfe außerhalb der Weiler.

Unterschiedliche Entwicklungen

Vergleicht man die beiden Quartiere miteinander, so wird außerdem deutlich, dass der Niedergang des Töpfereigewerbes in Raeren wesentlich weiter fortgeschritten ist als in Neudorf. Dies wird sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts rapide fortsetzen, wie das Berufsverzeichnis des Raerener Bürgermeisters Anton Ertz aus dem Jahre 1771[8] belegt. Hier werden nicht einmal 80 Jahre nach Pfarrer Großmeyer nur noch sechs Töpferfamilien genannt, was einen Rückgang um rund 65% ausmacht. Die Bemerkungen, die der Bürgermeister hinzufügt, belegen, dass die Situation sich auf den zweiten Blick noch dramatischer präsentiert: Nur einer der sechs Töpfer brennt noch pro Jahr drei Öfen. Zwei weitere brennen jeweils einen Ofen im Jahr und betreiben als Haupterwerbsquelle einen kleinen Laden, in dem sie Wolle, Leinen und Garn verkaufen. Drei weitere Töpferfamilien geben an, dass sie von ihrem bisher betriebenen Handwerk nicht mehr leben können, gezwungen sind, es aufzugeben und „sich nun mit Wolle spinnen abgeben müssen, um an ihr täglich Brot zu kommen.“

Leider liegen für Neudorf keine derartigen Aufstellungen aus dem 18. Jahrhundert vor. Dennoch wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass hier das Handwerk intensiver und länger weitergeführt wurde. Dies belegen nicht zuletzt jüngste Scherbenfunde, die einen Zeitschnitt von der Mitte des 16. Jh. bis weit ins 18. Jh. bzw. teilweise bis zur Mitte des 19. Jh. aufweisen. Auch eine Korrespondenzserie des Bürgermeisters von Gesamt-Raeren, L.B. Mennicken, aus dem beginnenden 19. Jh. mit der französischen Obrigkeit zeugt vom verzweifelten Bemühen, selbst zu diesem Zeitpunkt noch das Gewerbe am Leben zu erhalten. Endgültig erlosch es im Jahre 1850, als der letzte Ofen brannte.

Familienzugehörigkeit

Doch nun zurück zu Pfarrer Großmeyer. Zwei Elemente wollen wir noch kurz unter die Lupe nehmen, nämlich die Familienzugehörigkeiten der einzelnen Berufsgruppen und das Heiratsverhalten. Listet man die Familiennamen des Einwohnerverzeichnisses in alphabetischer Reihenfolge auf, so wird schnell deutlich, dass es zwei eindeutig dominierende Familien gab: die Emondts mit insgesamt 27 Haushalten (= 11,3% der Gesamtzahl) und 152 Personen (= 12,6% der Gesamtzahl), die Mennicken mit insgesamt 13 Haushalten (=5,5%) und 76 Personen (=6,3%).

Ohne näher auf die genealogische Entwicklung beider Familien einzugehen, sei doch vermerkt, dass beide sich wahrscheinlich aus einem gemeinsamen Stamm entwickelt haben und am Ursprung der Raerener Töpfertradition stehen[9]. So sind denn auch noch 1693 in der Familie Emondts 59,3% der Haushalte Töpfer, bei den Mennicken sind es gar 61,5%.

Betrachtet man die Statistiken näher, so kann man eine ganze Reihe von interessanten Schlussfolgerungen ziehen. Lassen Sie mich nur auf eine davon etwas näher eingehen: Die Familie Mennicken war vor allem in Neudorf ansässig, die Emondts mehrheitlich in Raeren. Auffällig ist auch, dass die Familie Mennicken wesentlich kleiner ist, als die der Emondts. Einer der Gründe dafür ist wohl, dass Mitglieder der Familie Mennicken bereits am Ende des 16. Jh. in den Westerwald und nach Langerwehe auswanderten und sich dort unter besseren Umständen als Töpfer niederließen. Bedenkt man die heutige Häufigkeit des Namens „Menningen“ im Westerwald, so kann es sich nicht um nur wenige Auswanderer gehandelt haben. Diese Abwanderungstendenzen sind bei den Emondts nicht nachzuweisen. Bringt man dies im Zusammenhang mit der erwähnten Ansiedlung der beiden Familien und der unterschiedlichen Geschwindigkeit des Niedergangs der Töpferei in beiden Quartieren so bieten sich interessante Ansätze zu einer späteren Untersuchung des Einflusses, den die Migration auf das Raerener Töpfereigewerbe gehabt hat.

Heiratsverhalten

Zum Schluss nun noch ein letzter Punkt, der mir ganz interessant erscheint: Das Heiratsverhalten der einzelnen Berufsgruppen. Da Pfarrer Großmeyer auch immer den Mädchennamen der Ehefrau erwähnt, lassen sich hierbei recht tiefe Einblicke tun. Die wichtigsten Resultate sind folgende:

17% der Töpfer gehen eine eheliche Verbindung mit anderen Töpferfamilien ein,

17% der Töpfer gehen eine Verbindung mit Fuhrmannsfamilien ein,

nur 8 % der Töpfer gehen eine Verbindung mit Tagelöhnerfamilien ein

und 58% der Töpfer gehen eine Verbindung mit anderen Berufsgruppen ein.

Auch hier gibt es wesentlich Unterschiede zwischen Raeren und Neudorf. Erstaunlich ist aber vor allem die Tatsache, dass der Prozentsatz reiner Töpferehen so gering ist. Dies lässt darauf schließen, dass die Innungsstatuten im Jahr 1693 bereits geringeren Einfluss auf die familiäre Situation hatten und die alteingesessenen Hierarchien zumindest im Ansatz in der Auflösung begriffen sind. Dies setzt sich übrigens im 18. Jahrhundert fort, wo in den einschlägigen Dokumenten immer häufiger Töpfer aus den Familien Pesch und Pitz auftauchen, die Mennicken und Emondts aber eine immer geringere Rolle spielen. Bei den anderen Berufsgruppen hingegen zeigt sich tendenziell ein anderes Bild:

52% der Fuhrleute gehen eine Verbindung mit Töpferfamilien ein,

24% von ihnen bleiben beim eigenen Berufsstand.

Auch 52% der Tagelöhner verbinden sich mit Töpferfamilien.

Ohne auf die weiteren Einzelheiten einzugehen, fällt doch auf den ersten Blick der unterschiedliche Prozentsatz zwischen Töpfer-Tagelöhner-Ehen und Tagelöhner-Töpfer-Ehen auf, was übrigens für die Fuhrleute ebenfalls, aber in geringerem Maße gilt. Dies erklärt sich vor allem aus der stark patriarchalischen Gesellschaftsstruktur des 17. Jahrhunderts: Männliche Töpfer heiraten keine oder nur selten Tagelöhnertöchter, wohingegen es männlichen Tagelöhnern durchaus gelingt, die Tochter eines Töpfers zu ehelichen. Da letzteres weder Einfluss auf die Erbmasse noch auf den Betrieb hatte, die beide nach rein patriarchalischen Prinzipien verteilt wurde, also an den ältesten Sohn weitergegeben wurden, ist dieser Unterschied durchaus verständlich. Außerdem war es wohl in der Regel so, dass die männlichen Tagelöhner zahlreiche Arbeiten für die Töpfer verrichteten und daher mehr soziale Kontakte hatten, als dies umgekehrt der Fall war.

Ich habe hier versucht, eine möglichst komplette Zusammenfassung der Erkenntnisse zu geben, die sich aus dem Einwohnerverzeichnis des Pfarrers Großmeyer ableiten lassen. Dennoch fehlen viele Details, die in der entsprechenden Studie nachzulesen sind.


Weiterführende Literatur:

Freddy Cremer, Alfred Minke u. Albert d’Haenens, Grenzland seit Menschengedenken, Identität und Zukunft der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Bibliokassette 2: Abhängigkeiten, Eupen 1990.

Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. München 1990.

Michael Kohnemann, Ian Emens – Raerens Meistertöpfer, Raeren 1991.

Michael Kohnemann, Raerens Töpferfamilie Menneken, Raeren 1992.

Ralph Mennicken, Pfarrer Großmeyer und die Raeren – Soziale Strukturen eines rheinisch-maasländischen Töpferdorfes am Ende des 17. Jahrhunderts. Materialien zur Raerener Töpferei Bd. 1, Raeren 2000.


Anmerkungen:

[1] Eine Zusammenstellung von Abschriften und Übersetzungen aller bekannten Dokumente ist in Vorbereitung und wird in naher Zukunft vom Töpfereimuseum Raeren veröffentlicht.

[2] Peter Jakob Großmeyer wurde 1665 in Aachen geboren und war von 1693 bis 1698 Pfarrer in Raeren. Später ging er nach Gemmenich, wo er ebenfalls ein komplettes Einwohnerverzeichnis anlegte.

[3] Das Dokument befindet sich im Staatsarchiv Eupen, Bestand Pfarregister Raeren Nr. 9 – Heiraten 1693-1709. Eine Kopie des Originals existiert ebenfalls im Raerener Pfarrarchiv.

[4] Grenzland 1990.

[5] Grenzland 1990.

[6] Vgl. dazu beispielsweise Dülmen 1990.

[7] Mennicken 2000.

[8] Lieste van handelinghe traficque ende stiellen vant quartier Raeren overgegeven aen de justitie van walhorn dienen tot de niewe Matriculle, oevergegeven den 5en februarij 1771; Staatsarchiv Eupen, Bestand der Bank Walhorn, Nr. 214

[9] Vgl. hierzu Kohnemann 1991; Kohnemann 1992.