Von dem Motiv haben sich im Collegium majus in der Michaelisstraße in Erfurt insgesamt elf Fragmente erhalten.1 Sie lassen sich zu mindestens zehn gleichartigen Kacheln ergänzen. Die annähernd quadratischen, weiß behauteten Bildfelder zeigen das auf einem Kissen sitzende Jesuskind. Es ist bis auf einen Mantel unbekleidet, der auf Bursthöhe von einer blütenförmigen Schließe zusammengehalten wird. Der Mantel lässt den Bauch und den Unterkörper mit den angewinkelten Beinen frei. Mit seiner Rechten weist das Kind auf ein kleines Vögelchen, welches es in seiner linken Hand hält. Das lächelnde Gesicht mit lockigem Haupthaar ist umgeben von einem Kreuznimbus und wird von einem glatten Inschriftenband hinterfangen. Die Figur ist in ein rundes Medaillon eingebettet. Dessen äußerer Rand bildet eine breite, ebenfalls glatte Kehle. Sie findet ihr formales Gegenstück in der Gestaltung einer rechteckig um das Bildfeld gelegten Leiste.
Aufgrund des Kreuznimbus und des Vögelchens kann das sitzende Kind auf der Erfurter Kachel als der sitzende Jesusknabe identifiziert werden. Zum einen ist diese Art des Heiligenscheins der Trinität von Gottvater, seinem Sohn und dem Heiligen Geist vorbehalten. Bei dem Vogel dürfe es sich um einen Stieglitz (Caruelis carduelis) handeln.2 Im Mittelalter war man der Meinung war, dass der Vogel sich angeblich von Dornen und Disteln ernähren würden. Die „bitteren Speise um der Erlösung der Menschheit willen“ verkörpert der Distelfink in der christlichen Symbolsprache den Opfertod des Gottessohnes.
Über Frauenklöster fand die Darstellung des unbekleideten Christuskinds bereits im 14. Jahrhundert Eingang in die Wohnwelt des Adels und des Bürgertums. Neben annähernd lebensgroßen Holzskulpturen wie dem Michael Erhart zugeschriebenen Jesuskind mit Weintraube3 zeugen zahlreiche Christuskinder aus Pfeifeton von der weiten Verbreitung und Beliebtheit dieses Motivs vor allem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.4 Mit der Übernahme des Motivs auf Werke der Kachelkunst verlor die Darstellung mehr und mehr ihren Charakter als eigenständiges Andachtsbild.
1987 beschäftigte sich Fritz Wullen anlässlich der Vorstellungen der Ofenkacheln aus dem Augustinerinnenkloster am Baiselsberg bei Vaihingen an der Enz mit dem Bildmotiv.5 Ein Jahr später stellte Jean-Paul Minne die Vertreter des Motivtyps aus dem Elsaß vor.6 Motivähnliche Ofenkeramiken aus dem schweizerischen Hornussen (vorgelegt 1997) und von der Burg Wertheimer (vorgelegt 2012) vervollständigten den Forschungsstand.7 Die graphische Vorlage des Motivs konnte bislang jedoch noch nicht identifiziert werden.8Vergleichbare Kupferstiche des Meisters E.S. zeigen das Christkind lediglich als stehende Ganzfigur. Stilistisch und aufgrund der Zeitstellung der Druckvorlagen lässt sich das Motiv an den Anfang des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts datieren.
Bislang weist FurnArch zu diesem Motiv 50 Einträge auf.9 Zusammen mit den elsässischen Vergleichsstücken lassen sich 14 Fundpunkte ansprechen. Schwerpunkt der Verbreitung bildet das nördliche Elsaß. Erstaunlicherweise fand das Motiv nur in einem Fall einen Widerhall in der Kachelkunst der Schweiz.10 Zahlreiche Kacheln stammen aus der nördlich an das Elsass angrenzenden Südpfalz. Die Fundstücke von der Burg Homburg zwischen Gemünden und Hammelburg und Kachelfragmente aus der Innenstadt von Würzburg sowie von der Burg Wertheim markieren die Nordgrenze des Verbreitungsgebietes.
Eine deutliche Massierung ist für die Region um das elsässische Saverne festzustellen. Die aus dem Abraum einer im Jahre 2003 archäologisch untersuchten, spätgotischen Töpferei stammenden Reliefs legen die Vermutung nahe, dass man dort über mindesten drei Kachelmodel dieses Motivs verfügt haben dürfte. Sie weichen in Details und im Format voneinander leicht ab.11
Ein Größenvergleich mit den Ausformungen in Saverne ergibt, dass die im Elsass und am Oberrhein bislang nachweisbaren Kacheln lediglich ca. 80% der Höhe und Breite ihrer Saverner Gegenstücke aufweisen. Der Größenunterschied ist ein markantes Indiz dafür, dass die Ursprünge des Kachelreliefs mit dem sitzenden Jesuskind im Elsaß, möglicherweise genauer in Saverne zu suchen sind. Gelangte ein Hafner nicht in den Besitz einer hochwertigen Models, so scheute er nicht davor zurück, eine Raubkopie anzufertigen. Da der Abformvorgang ausschließlich auf keramischem Wege erfolgte, ergab sich aus dem Schrumpfungsprozess des Tones beim Brennen von Sekundärmodel und –abformung ein deutlicher Volumenverlust.12 Charakteristisch für Sekundärabformungen sind des weiteren Abformspuren wie Verschleifungen von vorstehenden Teilen. Zur Wiedererkennung des ursprünglichen Reliefs musste das Bildfeld zudem noch nachbearbeitet werden. In unserem Fall wurde beispielsweise das ursprünglich mit kleinen Punktbuckeln besetzte Inschriftenband geglättet.
Die Erfurter Kacheln liegen deutlich außerhalb des umrissenen Verbreitungsgebietes. Sicher auf Wunsch des Auftraggebers, der 1379 gestifteten Universität Erfurt, wurden die Stücke dort im Collegium majus an einem repräsentativen Ofen platziert. Zahlreiche Kachelreliefs dieses Ofens, sowohl die Halbzylinderkacheln mit geschlossenen Vorsatzblättern im rechteckigen Feuerkasten als auch die Halbzylinderkacheln mit reliefierten Halbzylinder im zylindrischen Oberofen übernahmen Motive der spätgotischen Kunst des Oberrheins. Möglicherweise hatte man einen dort ansässigen Töpfer einschließlich seines Formenbestandes extra für die Erstellung dieses Kachelofens holen lassen. Für die reiche kurmainzische Handelsstadt an der Via Regia dürfte das mühelos finanzierbar gewesen sein.
Ofenkeramiken mit sitzendem Jesuskind
Harald Rosmanitz, Partenstein 2020, überarbeitet und erweitert 2022
Weiterführende Literatur:
Grimm, Gerald Volker; Rosmanitz, Harald (2017): VII.9 Fragment eines Jesuskindes. In: Peter Rückert (Hg.): Freiheit – Wahrheit – Evangelium. Reformation in Württemberg, Ostfildern, S. 262–263.
Lappe, Ulrich (1999): Ein Fund spätgotischer Ofenkacheln aus der alten Universität in Erfurt. In: Bärbel Kerkhoff-Hader; Werner Endres (Hg.): Keramische Produktion zwischen Handwerk und Industrie. Alltag, Souvenir, Technik (Bamberger Beiträge zur Volkskunde 7), Hildburghausen, S. 269–277.
Lappe, Ulrich (2003): Ein Fund mit spätgotischen Ofenkacheln aus der alten Universität in Erfurt. In: Alt-Thüringen 36, S. 206–224.
Metzger, Christof (2011): „es muoss ein zeserlin haben …“. Überlegungen zur Funktion des Naturalismus im späten Mittelalter und ein Jesuskind von Nikolaus Gerhaert von Leyden. In: Andreas Tacke; Stefan Heinz (Hg.): Menschenbilder. Beiträge zur Altdeutschen Kunst, Petersberg, S. 57–80.
Minne, Jean-Paul (1977): La céramique de poêle de l’Alsace médiévale, Strasbourg.
Reis, Alexander (2011): Ein Jesuskindfigürchen aus Pfeifenton. Glücksbringer, Spielfigur oder Devotionalie. In: Alexander Reis (Hg.): Mammuts. Steinbeile. Römersiedlungen. Paläontologie und Archäologie in Großwallstadt, Weinstadt, S. 105–116.
Roller, Stefan (Hg.) (2011): Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters, Frankfurt am Main.
Rosmanitz, Harald (2011): Vom Fragment zum Kachelofen. Die Stecknadel im Heuhaufen. In: Georg Ulrich Großmann (Hg.): Heiß diskutiert – Kachelöfen. Geschichte, Technologie, Restaurierung (Veröffentlichung des Instituts für Kunsttechnik und Konservierung im Germanischen Nationalmuseum 9), Nürnberg, S. 13–31.
Rosmanitz, Harald (2012a): Das Jesuskind und die bärtigen Männer mit Zipfelmützen. Die spätmittelalterlichen Ofenkacheln von der Wertheimer Burg. In: Wertheimer Jahrbuch 2010/2011, S. 75–111.
Rosmanitz, Harald (2012b): Das Phänomen von Ur- und Sekundärpatrize. In: Eva Roth Heege (Hg.): Ofenkeramik und Kachelofen. Typologie, Terminologie und Rekonstruktion im deutschsprachigen Raum (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 39), Basel, S. 57–63.
Rosmanitz, Harald (2022): Reliefierte Ofenkacheln des Spätmittelalters und der Neuzeit aus dem Spessart im Spannungsfeld von Motivgeber, Handwerker und Verbraucher. Möglichkeiten und Grenzen einer induktiven Kontextualisierung. (masch. Diss), Partenstein.
Wälchli, David (1997): Eine Ofenkachel mit Christkinddarstellung aus Hornussen. In: Vom Jura zum Schwarzwald 71, S. 7–12.
Wullen, Fritz (1987): Bildmotive auf Ofenkacheln aus dem Augustinerkloster am Baiselsberg. In: Beiträge zur Geschichte, Kultur- und Landschaftskunde. Schriftenreihe der Stadt Vahingen an der Enz 5, S. 119–142.
- Lappe 1999; Lappe 2003
- Auch eine Ansprache als Papagei scheint möglich (Minne 1977, S. 291).
- München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv. Nr. 91/42 (Metzger 2011; Roller 2011, S. 294-299, Kat.-Nr. 22)
- Grimm/Rosmanitz 2017; Reis 2011
- Wullen 1987, S. 132-133
- Minne 1977, S. 290-294
- Rosmanitz 2012a, S. 90-93; Wälchli 1997
- Jean-Paul Minne leitet das Motiv von Einblattholzschnitten ab (Minne 1977, S. 291-294).
- FurnArch (Furnologisches Archiv) ist eine nicht öffentlich zugängliche Datenbank zur Erfassung reliefierter Ofenkeramik in Süd- und Südwestdeutschland (Rosmanitz 2011, S. 24-25; Rosmanitz 2022, S. 24-29).
- Wälchli 1997
- Nach freundlicher Mitteilung von Bernhard Haegel, CRAMS Saverne.
- Rosmanitz 2012b