Das Kirchheimer Fragment zeigt den Großteil des ursprünglichen Bildfeldes. Ohne Rahmenangabe ist die Oberfläche von einem ornamentalen Dekor überzogen. Die spiegelsymmetrische Komposition ist von einem Banddekor bestimmt, das an den beiden oberen Ecken ansetzt und nach einem leicht geschwungenen Verlauf in einer Quaste in der Mitte des unteren Randes endet. Das Banddekor umschließt eine rautenförmige Struktur, deren Mitte eine vierblättrige Blüte bildet. Die zur Blüte weisenden Enden sind eingerollt und betonen eine gewisse Unabhängigkeit zum zentralen Motiv. Die Anordnung der Ornamente in der Bildmitte gibt sich als eine fast durchweg in Einzelteile aufgelöste Maske eines bärtigen Mannes mit Radhaube zu erkennen.
Solche Motive haben eine lange Tradition. Sie reicht letztlich bis zu den Henkeltaschen antiker Bronzegefäße zurück. Die Aneinanderreihung dekorativer Versatzstücke erlaubt es, das Motiv gleichzeitig als Maske und als ornamentales Versatzstück anzugeben. Ein im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe aufbewahrtes Eckkachelmodel mit einer Frauenfigur weist an hervorgehobener Stelle einen verwandten Maskenbesatz mit klar ausgebildeten Gesichtszügen auf. Ein weiterer Beleg für die antropomorphe Deutung des Motivs ist die Skizze einer vergleichbaren Maske auf der Rückseite einer Fliese von den Eichberghöfen bei Emmendingen.1
Mit der Bandstruktur knüpft die Kachel an ein geläufiges Formengut an, wie es von ähnlichen Reliefs aus dem Elsaß, aus Salzburg, aus der Schweiz und nicht zuletzt auch aus Südtirol bekannt ist. Die verbliebenen Flächen werden mit einem Ornament belegt, dessen Lesbarkeit erst durch eine mehrzeilige, versetzte Anordnung gleichartiger Kacheln möglich wird.
Das Fragment gehört aufgrund des fehlenden Randes der Gruppe der quadratischen Blattkacheln mit Tapetendekor an. Ihre Muster aus Blatt- und Rankenwerk sind so angelegt, daß sie in endloser Folge fortgesetzt werden können. Die Einzelkachel verliert in diesem Zusammenhang als Bildträger an Bedeutung. Erst im Kontext mit den umgebenden Kacheln ergibt sich das vollständige maureske oder arabeske Muster. Kennzeichnend ist dabei nicht das Einzelornament, sondern die flächenhafte Wirkung des Schmuckwerks.
Die ornamentale Flächenbehandlung entstand als eigenständiges Ziermotiv bald nach 1500. Der daraus entwickelte Tapetenofen erfreute sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Bayern, der Nordschweiz, am Oberrhein und in Österreich großer Beliebtheit. Die verwendeten Muster gleichen zeitgenössischen Ornamenten auf Bekleidung, Wandbespannungen und Ledertapeten. Möglicherweise verdankt der Ofentypus seine Entstehung dem Streben, die Raumheizung der Raumdekoration anzugleichen. Einer der frühesten Öfen mit Tapetenmuster ist der Ofen mit zwei zylindrischen Aufsätzen, den Peter Aichner im Jahre 1517 für die Burg Trausnitz ob Landshut fertigte. Zahlreiche weitere Öfen mit Tapetenmuster haben sich auf Schloß Ambras ob Innsbruck, in der Hofburg in Brixen sowie im Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum in Graz erhalten.
Die Blattkachel mit Tapetendekor und Maske steht stellvertretend für eine Gruppen von Ofenkeramiken, die insbesondere außerhalb formgebender Zentren weit verbreitet waren und im 17. Jahrhundert die Mehrzahl der damals stehenden Kachelöfen zierten. Im Gegensatz zu vielen anderen Reliefs waren solche Dekore zeitlos. Der streng symmetrische Aufbau, die geringe Relieftiefe und das weitgehende Fehlen von Fein- bzw. Binnenstrukturen erlaubten es auch einem weniger begabten Hafner, eigene Model zu entwickeln. Die 156 bislang in FurnArch erfassten Kacheln dieser Art (Stand: Juni 2020) sind zumindest formal annähernd deckungsgleich. Lediglich auf Kacheln aus Meßkirch sowie auf einer Variante des Motivs aus Kirchheim/Teck lassen sich deutliche Unterschiede konstatieren. Das Meßkircher Stück ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine späte, von hochbarockem Formenempfinden geprägte Neuinterpretation des Motivs, bei der die Grundidee der Maske vollständig verloren ging. Der Typus 2 aus Kirchheim/Teck ist dagegen wesentlich älter. Hier wird die Formensprache verfeinert, das Motiv für ein deutlich anspruchsvolleres Verbrauchermilieu salonfähig gemacht. Unter Beibehaltung des Grundgliederungsschemas stehen nun nicht mehr Masken, sondern glatte Punktbuckel im Fokus. Solche Bildelemente sind typisch für die im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts für das Heidelberger Schloss gefertigten Ofenkacheln.
Weiterführende Literatur:
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