Das Kachelfragment aus dem Stadtmuseum in Sinsheim zeigt den oberen Abschluss einer Rahmenarchitektur. Auf dem schmalen Bogen sitzen zwei geflügelte Putten, die in der Scheitelzone eine Muschel halten. Das Innenfeld weist einen nach rechts gewendeten Frauenkopf auf, der auf ein scheibenförmiges Messgerät blickt. Es kann als Astrolabium angesprochen werden, mit dessen Hilfe Zeitbestimmung, Horizontal- und Vertikalmessungen, sowie die Erstellung von Horoskopen möglich war.1
Vergleichsstücke aus Baden-Baden, Stuttgart, München, Nürnberg, Obernzell, Ravensburg und Ulm ermöglichen eine vollständige Rekonstruktion des Innenfeldes. Es zeigte eine nach rechts blickende, sitzende Frau, die sich mit ihrem linken Arm auf einen Globus stützt. Der rechte Arm weist nach oben. Neben ihr liegt ein Stechzirkel. Zu ihrer Linken steht auf einem Podest ein Putto. Er hält das erwähnte Astrolabium mit beiden Händen vor das Gesicht der Frau. Die Sockelzone des Podestes trägt die Jahreszahl 1588 und die Signatur VF.2
Zwei Putten in den Zwickeln halten in ihren Händen ein Muschelwerk, das über dem Bogenscheitel zum Liegen kommt. Der hochrechteckige Rahmen besitzt einen auffallend hohen, mit einem Löwenkopf besetzten Sockel.3 Er weist deutliche Bezüge zu den Rahmen der Serie mit den reitenden Kurfürsten auf,4 wobei dort die Zwickel mit Palmwedel und Lorbeerkranz haltenden Putten besetzt sind. Kacheln aus der Serie der Freien Künste nach Pencz in diesem Rahmen sind für Eschelbronn, Freiburg i. Br., Schloss Hallwil (CH), Lörrach, München, Ravensburg, Schwäbisch Hall, Sinsheim und Stuttgart nachgewiesen. Eine Variante des Kachelrahmens mit den Muschelwerk haltenden Putten stammt aus Weißenburg im Elsaß. Dort verkürzte der Töpfer die Kachel unter Weglassung der hohen Sockelzone erheblich und brachte das gesamte Kachelblatt in ein annähernd quadratisches Format.
Als Vorlage für das Sinsheimer Innenfeldrelief diente eine Kupferstichfolge des Nürnberger Kleinmeisters Georg Pencz (um 1500 – 1550). Die Sockelzone unter dem stehenden Putto trägt sein Künstlermonogramm PG. Der Kupferstich weicht nur unwesentlich von der Umsetzung in das Relief ab. So handelt es sich bei dem astronomischen Messgerät um einen drittelkreisförmigen Sonnenquadranten zur Berechnung der Sonnen- und Planetenstunden. Der Zeigegestus erhält bei der graphischen Vorlage einen Sinn. Dort spielt sich die Szene in einem Innenraum ab. Ein Fenster hinter der Frau gibt den Blick auf einen Sternenhimmel frei, auf den sie mit ihrem angewinkelten Arm weist.
Graphische Vorlage für die Serie der Freien Künste nach Pencz
Die Astrologie aus der Serie der Freien Künsten nach Penczs5 ist gemeinsam mit den Bestandteilen Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Musik und Geometrie einer siebenteiligen Bildfolge zugehörig. Die mit der Astrologie vorgetragene Lehrmeinung von der Vorausbestimmbarkeit des menschlichen Schicksals beruht auf der Annahme eines inneren Zusammenhangs von Makrokosmos und Mikrokosmos. Unter Hinzuziehung neuster mathematischer Messinstrumente bemühte man sich in der Renaissance, die astrologische Rechenkunst zu verfeinern, um mit Hilfe der Konstellation der Gestirne möglichst präzise Vorhersagen treffen zu können.
Motive der Serie der Freien Künste nach Pencz
Bereits Rosemarie Franz charakterisierte die Darstellung in der vorliegenden Form als „derb in der Modellierung“6 und wies ihr einen volkstümlichen Charakter zu. Dieser Eindruck bestätigt sich beim Vergleich mit einer Kölner und Speyrer Serie der Freien Künste nach Hans Sebald Beham,7 der eine vor 1550 in Wittenberg entwickelte Bildfolge voranzustellen ist.8 Als Ursache kann in erster Linie auf die reichhaltige Rahmenarchitektur verwiesen werden. Das Auge des Betrachters verzettelt sich in der Analyse der Löwenköpfe und Zwickeldekore. Das Innenfeld degeneriert zu einem Bestandteil eines dichten Dekorbesatzes. In zwei Fällen ist die Umnutzung des Kacheldekors mit der Serie der Freien Künste nach Pencz nachgewiesen, und zwar als Zierde eines Wasserkasten eines Wandbrunnens und als Pastetenform.9
Für Süd- und Südwestdeutschland lassen sich vier Typen ermitteln, die insgesamt sechs Varianten ausbilden:
Rahmenvarianten der Serie der Freien Künste nach Pencz
Typ 1 | Typ 1a | Typ 2 |
Typ 2a | Typ 3 | Typ 4 |
Typ 1 (Verbreitungskarte: Sechseck)
Hochrechteckige Blattkachel mit einer Arkade mit Löwenkopf im Sockel, kandelaberbesetzten Pfeilern und einer Muschel im Bogenscheitel, die von zwei Engeln in den Zwickeln gehalten wird.
Eine Spielart (Typ 1a) weist mit Löwenköpfen besetzte Sockel unter kannelierten Pfeilern auf. Die Gesimse sind nicht als Kapitelle ausgearbeitet, sondern mit Blüten besetzt.10 Die Gesimszone ist ebenfalls mit Blüten ausgeschmückt.
Typ 2 (Verbreitungskarte: Quadrat)
Quadratische Blattkachel mit einer Arkade mit löwenkopfbesetzten Sockeln unter Pfeilern mit vorgesetzten, antik gekleideten Wächtern, jeweils unter einem Gesims, das mit einem geflügelten Puttenkopf besetzt ist. Über einem Architrav mit der Jahreszahl 1588 erkennt man im Bogenscheitel einen Puttenkopf, welcher von zwei antithetischen, nach außen schreitenden Löwen flankiert wird (Verbreitungskarte: Quadrat). Eine etwas einfacher gebildete Spielart (Typ 2a) weist über blütenbesetzten Sockeln mit Nischen besetzte Pfeiler auf. Die Gesimszone ist ebenfalls mit Blüten ausgeschmückt.
Typ 3 (Verbreitungskarte: Dreieck)
Quadratische Blattkachel mit einer Arkade mit doppelbalusterbesetzten Pfeilern, glattem Wappenschild im Bogenscheitel, sowie mit antithetischen Eulen mit gespreizten Flügeln in den Zwickeln11
Typ 4 (Verbreitungskarte: Kreis)
Hochrechteckige Blattkachel mit bildfüllender Allegorie ganzseitig umfasst von einer Eierstableiste
Die Serie der Freien Künste nach Georg Pencz war, wie Reliefs in Böhmen und Polen verdeutlichen, in Entsprechung zu vergleichbaren Bildfolgen aus der Werkstatt von Lukas Cranach und Hans Sebald Beham europaweit verbreitet. Sie widerlegt damit deutlich die Stringenz der von den Kachelforschern Alfred Walcher von Molthein und Konrad Strauss immer wieder bei der Abgrenzung von Verbreitungsgebieten ins Feld geführten „Kachelregionen“. Ein Produktionsschwerpunkt ist ebenfalls nicht auszumachen. Rezipierende Werkstätten und Ortshafnereien führten die Bildfolge gerne in ihrem Sortiment. Auf die Vollständigkeit der Serie wurde dem archäologischen Kontext zufolge kein Wert gelegt. Eine Aufsplittung des Verbreitungsgebietes in Hinblick auf die Verwendung der einzelnen Rahmenformen ist auf der Grundlage der vorliegenden Kartierung ebenfalls nicht möglich. Die Rahmentypen 1 bis 3 scheinen vielmehr allesamt in etwa gleichem Maße beliebt und für den Hafner verfügbar gewesen zu sein. Nur in einem Fall, im Falle von Schloss Burk in Thüringen, lässt sich der Einbau des Penczschen Serie für ein exklusives Wohnmilieu belegen.12 Bei weiteren Adelssitzen wie der Burg Rötteln oder der Hardenburg waren die Reliefs in Öfen eingebaut, die an weniger repräsentativen Orten wie Küchen- oder Verwaltungstraktengestanden haben dürften. Die Kachelreliefs kamen in erster Linie in den in bürgerlichen Stuben zum Einsatz.
Weitere Keramiken mit der Serie der Freien Künste nach Pencz
Weiterführende Literatur:
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Harald Rosmanitz, Partenstein 2006, überarbeitet und erweitert 2020 und 2022
- Meckseper 1985, S. 593-594, Kat.-Nr. 506.
- Zum Meister VF: Henkel 1990, S. 141-143.
- Vollständige Model werden im Bayerischen Nationalmuseum in München (Bauer 1983, S. 71, Abb. 26) sowie im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart aufbewahrt
- Rosmanitz 1994, 159-161.
- Zur Bildfolge: Ade 1989, S. 16-18; Benker/Hagn 2002, S. 102-103, Kat.-Nr. 173; Gralak 2017, S. 66-68; Hagn 1984; Hagn 1997, S. 454-456; Lutz 1973, S. 80-84, Kat.-Nr. 29-30; Majewski 2015, S. 165-167; Mück/Schmidt 1989, S. 136, Abb. 14-17; Ose 1997; Ramisch 1980, S. 136-137 und 157-158; Ring 2009, S. 13–16; Rosmanitz 1993; Rosmanitz 2022, S. 224-225, Taf. 421-422; Steinberger 1999; Unteidig 2013; Vollmann 2012, S. 168-173
- Zit. Franz 1981, 89.
- Majewski 2015, S. 163-164; Rosmanitz 1992, S. 80-81; Unger 1988, 122-128
- Rosmanitz 2014
- Rosmanitz 2017, S. 282
- Ehem. Darmstadt, Hessisches Landesmuseum (Strauss 1972, Taf. 266.5).
- Herbert Hagn sprach die Eulen in den Zwickeln in seinen Ausführungen zu vergleichbaren Kacheln aus Rosenheim als Greife an (Hagn 1997, 455-456, Kat.-Nr. 273).
- Unteidig 2013, S. 343–347.