Die Oberfläche der grün glasierten Kachel von der Burg Rötteln bei Lörrach ist noch weitgehend intakt. Abplatzungen der Glasur können auf die Erdlagerung zurückgeführt werden. Die rechte obere Ecke ist mit eingefärbtem Gips ergänzt.
Das Bildfeld in einer dreifach getreppten Rahmenleiste wird zur Gänze von einem nach links schreitenden Greifen in Seitenansicht eingenommen. Der Künstler hat nur das Tier selbst modelliert. Ein korrespondierender Unter- oder Hintergrund fehlt. Die klauenbesetzten Füße des Fabelwesens sind in leichter Oberansicht wiedergegeben. Der Greif steht auf drei Beinen. Sein rechter Fuß weist horizontal nach vorne. Er deutet damit in Entsprechung zu einer vergleichbaren Schrittstellung bei Löwen eine majestätische Haltung an. Sind die Vorderbeine als krallenbesetzte, spitz zulaufende Kegel gebildet, so liegen der Modellierung der Hinterläufe mit ihren quastenbesetzten Fersen Naturbeobachtungen bei Löwen zugrunde. Die Anordnung des langen Schweifes, der sich in Bogenform zwischen den Beinen windet und parallel zum Flügel in einer großen Quaste endet, gleicht der Modellierung von Löwen ebenso wie die schmale Taille des Tieres. Die kalottenförmig geblähte Brust geht nahtlos in einen breiten Hals und in den nach vorne gedrehten Kopf über, von dem sich das punktförmige Auge und die beiden weit nach hinten weisenden Ohren erhalten haben. Der Schnabel ist ausgebrochen. Am Rücken setzt ein federbesetzter Flügel an, der schrägt nach oben weist.
Der Greif ist aus dem antiken und orientalischen Formenschatz übernommen worden.1 Der phantastische Vogel wird meist mit Adlerkopf, Löwenleib und Flügeln abgebildet. Der Greif geht auf antike Bestiarien zurück. Das unbändige Tier vereint in sich Züge des Löwen und des kaiserlichen Adlers. Daher wird es meist mit vier Löwenbeinen und Adlerfängen dargestellt. Der Greif ist fast immer siegreich über Löwe, Schlange, Drache und Mensch. Er hat durch die Deutung des Physiologus, in dem er zu den sieben Tieren der sogenannten byzantinischen Redaktion zählt, in der christlichen Kunst des Abendlandes allgemeine Verbreitung gefunden. Sein zweideutiges Wesen kann sowohl die Mächte des Guten wie auch des Bösen verkörpern. Der sagenhafte geflügelte Greif, der sowohl in den Lüften wie auf der Erde, gleichzeitig im Himmel und unter Menschen leben kann, vereinigt die beiden Naturen des Adlers und des Menschen. Er ähnelt damit in seinem Wesen den beiden Naturen Christi, der zugleich Mensch und Gott ist.2
Wie dem Einhorn wurde auch dem Greif nachgesagt, er vermöge einen Giftmord zu vereiteln, da seine Fänge in der Gegenwart einer giftigen Substanz die Farbe veränderten. Man hielt den Greif für das größte fliegende Tier und stellte sich ihn so gewaltig vor, daß seine im Flug ausgebreiteten Schwingen die Sonne verfinstern könnten. Nach Herodot stammen die Greife von den höchsten Bergen Indiens, wo sie nach Gold grüben, um ihre Nester zu bauen. Da der Greif mit der Sonne, dem Gold und der Heilkraft und außerdem mit den imperialen Eigenschaften des Adlers in Verbindung gebracht wurde, ist naheliegend, warum sich viele Regenten, unter Ihnen auch Kaiser Maximilian I., ein solch mächtiges Wesen als Wappentier erkoren haben.
Die Darstellung eines Greifen oder eines Greifenpaares erfüllt damit mehr als nur eine rein dekorative Aufgabe. Auf Bodenfliesen und Kacheln wird der Greif stets in Seitenansicht wiedergegeben. Er besteht aus einem großen Vogelkopf mit kräftigem Adlerschnabel, spitzen Ohren, mehr oder weniger sorgfältig gezeichneten Federn, einem Löwenleib mit übermäßig großen Krallen und einem Schweif. Seine Brust ist im Gegensatz zu den glatten raubtierartigen Hinterleib mit Federn bedeckt. Oft zeigt sich auf den Reliefs das Bestreben, das Tier flächendeckend in die quadratische Füllung einzupassen. Hinzu kommt die Betonung des dekorativ-ornamentalen Charakters der Tierdarstellung.3 Wie fast alle flächenfüllenden Motive der Spätgotik wandelte man den Greif in der Renaissance in dekoratives Beiwerk um, das bisweilen ein steigendes Karnies einer Gesimskachel ziert.4
Vergleicht man die Röttelner Darstellung mit einer voll ausgebildeten Greifendarstellung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise in Rötteln selbst, in Breisach, Offenburg, Neuburg oder Ottenhöfen bekannt sind,5 so tritt die Archaik in Bildaufbau und Modellierung deutlich zu Tage. Es zeigt sich, daß die Röttelner Kachel noch aus der Motivfindungsphase stammt: Das Relief ist recht flach. Die Plastizität beschränkt sich in erster Linie auf die Angabe von Umrissen. Für das Binnendekor griff man auf grobe, holzschnittartige Stilmittel zurück.6
Den Hafnern dienten Stiche, Wandteppiche, Steinkapitelle und weitere Erzeugnisse aus der breiten Palette des Kunsthandwerks als Vorbilder. Eine Frühform der Greifendarstellung findet sich auf Bodenfliesen des 14. Jahrhunderts.7 Von den Bodenfliesen übernahm man bei dem Röttelner Relief vor allem Grundzüge in der Anordnung und Proportionierung, so die schreitende Angriffsstellung, die alle Greifendarstellungen auf Ofenkacheln des 15. Jahrhunderts auszeichnet.8 Eine direkte Vorlage läßt sich nicht nachweisen.
Spätmittelalterliche Blattkacheln mit Greifendarstellung sind aus dem gesamten Südwestdeutschland, dem Elsaß und der Nordschweiz bekannt. Ein weiterer Verbreitungsschwerpunkt liegt in Böhmen und Ungarn.9 Im Wesentlichen stehen die Greifenkacheln in enger Verbindung mit dem spätgotischen Kunsthandwerk des zweiten Drittels des 15. Jahrhunderts. Ältere Greife finden sich in Kombination mit Drachen beispielsweise in den Maßwerkzwickeln der Kacheln vom Typ Tannenberg aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts. Die hier vorgestellten Beispiele aus Eschau, Heidelberg, Hirschhorn und Miltenberg zeigen eindrucksvoll, welche Wandlung das Bildmotiv am Ende des 14. Jahrhunderts vollzog.
Bei der Röttelner Greifenkachel handelt es sich um einen vergleichbar frühen Beleg für südwestdeutsche Blattkacheln. Das Relief kann aufgrund der stilistischen Analyse, vor allem aber wegen der Glasurfarbe und -zusammensetzung in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden.
Die Röttelner Greifenkachel war sicher kein Einzelstück. Sie zierte zusammen mit weiteren Kacheln dieser Art den Feuerkasten eines spätmittelalterlichen Ofens. Die weiteren auf der Burg gefundenen Kacheln mit Greifen und Drachen entstanden alle etwa ein halbes Jahrhundert später und können mit dem vorliegenden Stück in keinerlei baulichen Zusammenhang gebracht werden.
Weiterführende Literatur:
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Alban Horry, Deux ateliers de potiers en Dauphiné au bas Moyen Âge. Les productios d´Aoste. [Zwei Töpfereien in der Dauphiné im Spätmittelalter. Die Werkstätten von Aoste (Isère)], in: Archéologie médiévale 43 (2013), S. 109-110
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© Harald Rosmanitz, Partenstein 2020
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- Anne Rapp-Buri, Monica Stucky-Schürer, Zahm und Wild. Basler und Straßburger Bildteppiche des 15. Jahrhunderts, Mainz 1990, 52.
- Zur Motiventwicklung: Konrad Strauss, Die Kachelkunst des 15. bis 17. Jahrhunderts in europäischen Ländern. III.Teil, München 1983, 9-11, Taf. 2-13.
- Konrad Strauss, Die Kachelkunst des 15. bis 17. Jahrhunderts in europäischen Ländern. III.Teil, München 1983, 9-11, Taf. 17.
- Peter Ziegler, Die Ofenkeramik der Burg Wädenswil. Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich 43, Heft 3, Zürich 1968, Kat. Nr. 18., Kat. Nr. 18; Strauss 1983, Taf. 8. 5; Pillin 1990, 80-81, Kat. Nr. 22.
- Vgl. eine ähnlich modellierte Kachel mit steigendem Löwen aus Prag (Julie Richterová, Stredoveké kachle (Mittelalterliche Kacheln aus der Sammlung des Museums der Hauptstadt Prag), Prag 1982, Taf. 13.1).
- Strauss 1983, Taf. 11. 1-2.
- Strauss 1983, Taf. 2-8.
- Pál Voit u. Imre Holl, Alte Ungarische Ofenkacheln, Budapest 1963, 21, Abb. VIII; Richterová 1982, Taf. 19.1.