Die Rahmenarchitektur des Models setzt sich aus zwei Pfeilern und einem darauf ruhenden Bogen zusammen. Die Pfeiler mit vorgeblendeten Hermen mit verschränkten Armen flankieren im Sockel eine rollwerkbesetzte Inschriftentafel. Die Inschrift DIE MESIGKEIT weist den Innenfeldbesatz der Serie der Tugenden zu. Der gedrückte Segmentbogen mit schmaler, glatter Kehle wird von zwei nach außen gewendeten, ins Profil gedrehten Groteskenköpfen flankiert. Ihre Gesichter kommen zwischen Radhauben und blattartig ausgebildeten Vollbärten zum Vorschein. Die Köpfe sind von blattbesetztem Rollwerk hinterfangen, das auf Höhe des Bogenscheitels zu einem Rollwerkbündel zusammengefasst wird. Die Pfeiler mit vorgeblendeten Hermen mit verschränkten Armen flankieren im Sockel eine rollwerkbesetzte Inschriftentafel.
Im Innenfeld erkennt man eine stehende, nach links blickende Frau. Sie trägt ein eng anliegendes Kleid. Ihr Haar ist unter einem Haarnetz verborgen. Ein Haarreif bereichert den aufwendigen Kopfputz. Dieser datiert zusammen mit der hoch geschlossenen, plissierten Bluse die Darstellung in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Frau gießt Flüssigkeit aus einer Kanne, die sie in ihrer rechten Hand hält, in eine gerippte Schüssel. Zu ihren Füßen erkennt man die Silhouette einer Burg mit zinnenbesetzten Mauern. Die Zahl 6 auf Kopfhöhe wiederholt sich als römische Ziffer VI in der linken unteren Ecke. Damit ist die Darstellung als sechste Darstellung aus einer Bildfolge kenntlich gemacht. Die Sockelinschrift DIE MESIGKEIT löst das Rätsel der mit Flüssigkeit hantierenden Frau im Innenfeld auf. Sie verkörpert eine der sieben Tugenden. Diese setzen sich aus den vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Klugheit und Stärke, sowie aus den drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung zusammen. Die vorliegende Serie war als achtteilige Bildfolge konzipiert. Neben den christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung wurden die Gerechtigkeit, die Weitsicht, die Mäßigung, die Stärke und die Geduld durch stehende Frauen verkörpert. Die Figur auf dem Haller Model bringt die Mäßigkeit durch das vorsichtige Ausschenken zum Ausdruck.
Motive der Serie der Tugenden
In Hall haben sich aus der gleichen Serie zwei Model mit der Allegorie der Klugheit erhalten. Bei einem der Model ist das Innenfeld in eine Rahmenarchitektur mit Kandelaberdekor eingebunden. Mit dem Ornament sind sowohl die Pfeiler, als auch die Zwickel über den Kämpfergesimsen besetzt. Auf diese Art und Weise bildet der Dekor eine kompakte, vegetabile Fläche, ohne dabei den Charakter einer Rahmenarchitektur ganz zu verlieren. Die Verwendung abweichender Rahmen für übereinstimmende Innenfelder, wie sie für Schwäbisch Hall nachgewiesen werden konnte, scheint nicht unüblich gewesen zu sein. Damit entfällt die Zuweisung bestimmter Rahmenformen an deutlich voneinander abgrenzbare Werkstatt- und Verbraucherkreise.
Die hier zur Debatte stehende Motivfolge konnte noch in zwei weitere Rahmen eingebunden werden. Die für Fulda archäologisch belegte Arkade lehnt sich in seiner ornamentalen Gestaltung an den Rahmen mit Vasendekor an. Allerdings wurden die Pfeilerbesätze als eine Säule überwucherndes Rankenwerk gearbeitet. In den Zwickeln dominiert blatt- und früchtebesetztes Rollwerk. Für Alpirsbach ist die Vergesellschaftung mit der Arkade mit armlosen Hermenpfeilern nachgewiesen, die in erster Linie die oberrheinische Apostelserie umschließt. 1
Da sich ein Model der Motivgruppe mit Kandelaberrahmen und der Allegorie der Liebe als Modelfragment und als Fehlbrand einer Kachel im Hafnereiabfall der Gelbinger Gasse 69 in Schwäbisch Hall fand, ist anzunehmen, dass Kacheln der Serie auch in Hall gefertigt wurden. Ein datiertes Model aus der Gelbinger Gasse trägt die Jahreszahl 1690. Wahrscheinlich wurden das Model und die fehlerhafte Ausformung ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weggeworfen.
Der Rahmen mit Kandelaberdekor kann auch eine Serie mit alttestamentarischen Helden umschließen.2 Den Attributen und den Sockelinschriften zufolge verkörpern die stehenden Männer ebenfalls die Tugenden. Daneben finden sich Anspielungen auf das Heilsgeschehen. Samson steht auf einem Haller Model mit Kandelaberdekor aufgrund der ihm zugeschriebenen unvorstellbaren Körperkräfte für die Stärke. Seine Selbstaufopferung bei der Zerstörung des Tempels der Philister lässt sich typologisch mit dem Kreuzestod Christi gleichsetzen.
Die Serien mit den Frauenfiguren und den alttestamentarischen Helden war im gesamten deutschen Südwesten und in der Schweiz weit verbreitet. Die Vergesellschaftung von Tugendallegorien in Form von stehenden Frauen und alttestamentarischen Helden, wie sie beispielsweise für den Kachelofen von Oberägeri belegt ist,3 führt eine für uns kaum nachvollziehbare thematische Doppelung des Motivs auf ein und demselben Ofen vor Augen.
Der bislang in FurnArch zusammengetragene Bestand von 81 Reliefs der Serie (Stand Juli 2020) kann mit 17 Modeln aufwarten. Funde aus Werkstätten in Basel, Fulda, Gießen, Isny, Mengen, Schwäbisch Hall, Willisau und Zug zeigen, dass städtischen Töpfereien fast schon regelhaft diese Bildfolge in ihrem Repertoire führten. Die im Format größten Kacheln der Serie stammen aus dem Stadtgebiet von Ingolstadt. Die Kachel mit der Allegorie der Geduld aus dem südthüringischen Ummerstadt kann im Proportionsverhältnis dazu als Dritt- oder Viertabformung eines Models Ingolstädter Prägung angesprochen werden.
Es hat sich eine große Anzahl graphischer Blätter aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit Tugendallegorien in Frauengestalt erhalten. Vergleichbare Kachelserien, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Rheinland gefertigt wurden, orientieren sich an graphischen Vorlagen Nürnberger Kleinmeister wie Sebald Beham oder Virgil Solis. Eine weitere rheinländische Serie wurde nach Bleiplaketten von Peter Flötner modelliert. Sie enthält bereits wesentliche Merkmale in Gesamtkomposition, Haltung und Bekleidung, die für das Haller Relief verbindlich wurde. Die Hinzunahme weiterer Attribute und der Faltenwurf lässt jedoch stilistische und inhaltliche Anleihen an einer Tugendfolge erkennen, die gegen 1600 von Jacob Matham nach Vorlagen von Hendrick Goltzius gestochen wurde. Die Rückseite eines Models im Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart trägt die Jahreszahl 1628. Dass man auch noch eine Generation nach der Entstehung der graphischen Vorlagen mit den Reliefs arbeitete, zeigt das bereits erwähnte Model mit der Jahreszahl 1690 aus der Gelbinger Gasse in Schwäbisch Hall. Mehrere Model mit Vasenrahmen und der Serie der Propheten fanden sich in einer Hafnerei in Kirchheim/Teck, die im Jahre 1690 aufgegeben wurde.
Weitere Ofenkeramik der Serie der Tugenden
Weiterführende Literatur:
Endres, Werner (2011): Kachelfunde aus der Burg Flossenbürg. In: Beiträge zur Archäologie in der Oberpfalz und in Regensburg 9, S. 425–438.
Hüglin, Sophie (2013): Ofenkachelmotive als Quellen frühneuzeitlicher Kulturgeschichte. Mikrohistorische Studie aus Freiburg und dem Breisgau. In: Harald Siebenmorgen (Hg.): Blick nach Westen. Keramik in Baden und im Elsass. Karlsruhe, S. 129–137.
Konle, Christina J. (2007): Terra, Aqua, Aer. Kachelfunde aus Schloss Messkirch bei Sigmaringen. (masch. Magisterarbeit). Tübingen.
Putscher, Marielene (1971): Die fünf Sinne. In: Aachener Kunstblätter 41, S. 152–173. DOI: 10.11588/akb.1971.0.34855.
Röber, Ralph (1998): Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ofenkacheln aus dem Kreis und der Stadt Konstanz. In: Fundberichte aus Baden-Württemberg 22 1, S. 803–851.
Stelzle-Hüglin, Sophie (1993): Von Abraham bis Samson. Eine renaissancezeitliche Kachelserie mit alttestamentarischen Figuren. Bemerkungen zu Ikonographie und Verbreitungsbild. In: Werner Endres (Hg.): Beiträge vom 25. Internationalen Hafnerei-Symposium in Lienz, Osttirol 1992 (Nearchos 1), S. 155–163.
© Harald Rosmanitz, Partenstein 2020
- Rosmanitz, Harald (2001): Die Ofenkacheln. Dutzendware als kulturgeschichtliches Dokument. In: Günter Bachmann (Hg.): Alpirsbach. Zur Geschichte von Kloster und Stadt. Stuttgart (Forschungen und Berichte der Bau- und Kunstdenkmalpflege in Baden-Württemberg 10), S. S. 889, Abb. 903.
- Schmid, Beate (2009): Archäologische Untersuchungen im Stadtgebiet von Mengen, Kreis Sigmaringen. Stuttgart: Theiss (Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 27), S. 95-99
- Messerli Bolliger, Barbara (1989): Grünglasierte Reliefkacheln aus Winterthur (Schweiz). In: Joachim Naumann (Hg.): Die Keramik vom Niederrhein und ihr internationales Umfeld. Internationales Keramik-Symposium in Duisburg Düsseldorf und Neuss 1988. Düsseldorf (Beiträge zur Keramik), S. 78–82; Rüdiger Rothkegel, Vom Haus Gerbe in Oberägeri, Kanton Zug. Eine Untersuchung zur Archäologie der Neuzeit, (Kunstgeschichte und Archäologie im Kanton Zug) Zug 1996