Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtungen bildet eine Halbzylinderkachel mit geschlossenem Vorsatzblatt, die im Jahre 1996 bei Ausgrabungen auf der Burg Drachenfels bei Busenberg in der Pfalz gefunden wurde.1 Die Zerstörung der Burg am 10. Mai 1523 gibt den terminus ante quem der Nutzung jenes Kachelofens an, in den das hier vorgestellte Stück eingebunden war.
Das von einem runden Medaillon umgebene Mittelbild zeigt eine reitende Frau. Im Damensitz thront sie auf einem auf allen Vieren kriechenden, alten Mann. Die Frau ist mit ihrer turbanartigen Haube und ihrem in scharfkantigen Falten liegenden Kleid mit weitem, v-förmigem Ausschnitt in der Tracht des ausgehenden 15. Jahrhunderts dargestellt. Zeichnen sich Brüste und Taille unter dem Stoff deutlich ab, bleiben ihre Füße unter dem weit herabhängenden Rock vollständig verborgen. Um die eng geschnürte Taille hängt an einem ledernen Band ein Täschchen auf ihre Hüfte. An ihrem linken Ohr ist ein Teil eines Gefrens, einer Fransenborte, die den Nacken bedeckte, zu erkennen. In ihrer erhobenen, angewinkelten Linken hält sie eine einschwänzige Peitsche. Die rechte Hand greift in das Haar des am Boden krabbelnden Mannes. Er hat sein bärtiges Gesicht ebenso wie die auf ihm reitende Frau dem Betrachter zugewendet. Die Bekleidung des Mannes ist mit der niedrigen Kappe und der pelzkragenbesetzten Schaube typisch für einen Gelehrtenhabit des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit.2 Hautenge Beinlinge, die nahtlos in Schnabelschuhe übergehen, schließen das Outfit nach unten hin ab.
Die beiden Figuren sind oberhalb des Mannes von einem glatten Schriftband hinterfangen. Es ist mehrfach in sich verdreht. Seine Räumlichkeit erhält die Darstellung dadurch, dass sie in Teilen in das breite, glatt gekehlte Medaillon eingreift. Die Außenkante der Rahmung ist in den ansonsten nicht dekorierten Zwickeln jeweils mit einer Nase besetzt. Ein schmaler Halbstab leitete zu einer weiteren, glatten Kehle über, die das Bildfeld annähernd quadratisch einfasst.
Kacheln mit Aristoteles und Phyllis in rundem Medaillon
Der Philosophenritt
Das ungewöhnliche Bildmotiv ist der Gruppe der „Weiberlisten“ zuzuordnen.3 Der zeitgenössischen Literatur, aber auch dem moralisierenden, religiösen Kontext entlehnt, geht es darum, durch die Darstellung extremer, skurril anmutender Situationen dem Betrachter im Sinne einer christlichen Lebensführung den rechten Weg zu weisen. Oft sind solche Themen zu mehrteiligen Bildfolgen zusammengeschlossen.
Das Bildmotiv „Aristoteles und Phyllis“ geht auf eine aus Indien über den arabischen Raum tradierte Erzählung zurück, bei der ursprünglich ein Minister seinen König vor dessen übergroßer Liebe zu seiner Frau warnte, ihr aber daraufhin selbst verfiel. In Deutschland wurde die Geschichte spätestens um 1230/1250 bekannt4 und die Pointe um dieselbe Zeit etwa bei Jakob von Vitrys († 1240) „sermones feriales et communes“ verschärft, indem nun der Philosoph Aristoteles und in einigen Nacharbeitungen Phyllis, die Geliebte des Prinzen oder Königs Alexander zu den Protagonisten wurden.5 In Deutschland ist eine andere, um 1230/40 entstandene Version ursächlich für die Bildgebung verantwortlich zu machen.6 Es könnte sich aber auch um eine lateinische Fassung des 14. Jahrhunderts aus der Feder von John Herold7 oder um eine der zahlreichen spätmittelalterlichen Versionen der Geschichte handeln, bei der Alexander als Zuschauer auftritt, wobei in dieser Fassung Phyllis dessen Ehefrau ist.8
Pikanterie und Pedanterie
Die Darstellungen der Motive „Weiberlist und Männertorheit“ durchzieht die Bilderwelt des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Das bekannteste Beispiel ist der Philosophenritt auf dem zwischen 1320 und 1330 entstandenen Maltererteppich, einer Weberei, die als Bankbehang diente.9 Hoher Medienpräsenz erfreut sich eine bronzene Aquamanile aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert.10
Der Liebesnarr Aristoteles entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. So etwas lässt sich in ein ganzes Repertoire von Männertorheiten einbinden, der das Schneiden der Haare Samsons durch Delila, die Enthauptung Johannes des Täufers im Auftrag von Salome, die Tötung des Holofernes durch Judith und die badende Bethseba ebenso zuzuordnen sind wie Salomos Götzendienst. Annähernd alle Sujets fanden ihren Widerhall auf Werken der Kachelkunst.
Die Frage nach dem Impulsgeber
Die Blütezeit des Motivs ist am Ausgang des Mittelalters und am Beginn der Neuzeit zu verorten. Künstler wie Hans Brosamer (1495-1554), Hans Burkmair (1473-1531), Lukas Cranach d. Ä. (1472-1553), Baldung Grien (1484/85-1545) und Georg Pencz (um 1500 bis 1550) lieferten Bildvorlagen, die unter anderem auf Kabinettscheiben, Stickereien und Ofenkacheln übertragen wurden.11
Die bildnerische Vorlage, die der Halbzylinderkachel vom Drachenfels zugrunde gelegen haben dürfte, ist deutlich früher entstanden. Eine zwischen 1486 und 1520 gefertigte, heute in Augsburg aufbewahrte Zeichnung12 weist Übereinstimmungen im Gesamtkonzept und bei der Gestaltung der Frauentracht auf. Zudem hat die auf Aristoteles Sitzende ihre Hand mit der Peitsche ähnlich erhoben, wie auf der Ofenkeramik. Vergleichbares gilt für eine weitere, dort entstandene Federzeichnung.13 Eine noch größere Nähe ist einer um 1480 entstandenen Zeichnung des Hausbuchmeisters zuzubilligen.14 Neben Parallelen in Gesamtkonzept und in der Kleidung beider Agierender nimmt die runde Grundform des Bildes die Konzeption des Kachelreliefs vorweg. Allerdings weist der Peitschenarm von Phyllis nach unten. Die Szene ist in einen umfriedeten Garten verlegt. Dies ermöglichte es dem Künstler, zwei sich auf die Mauer lehnende Männer als Zeugen dem Geschehnis hinzuzufügen.15 Der Stich des Hausbuchmeisters findet in dessen Werkschaffen sein Gegenstück in Salomos Götzendienst.16
Die beiden zuletzt vorgestellten Motivvarianten kommen dem Kachelrelief am nächsten. Sie lassen sich jedoch nicht als direkte Bildvorlage der Kachelreliefs ansprechen.
Ein oberrheinisches Urgestein
Ein Blick auf die Verbreitung von Kacheln mit Phyllis, auf Aristoteles reitend, zeigt, dass die stilistisch zu postulierende oberrheinische Provenienz der graphischen Vorlage ihren Widerhall in der Nutzung des Kachelmotivs findet. Das nördlichste und gleichzeitig östlichste Vorkommen im thüringischen Schmalkalden17 dürfte dem Einfluss des Bistums Würzburg geschuldet sein. Nach Süden bilden zwei nordschweizerische Fundpunkte18 und einer im ehemals württembergischen Montbéliard19 die Grenze des Verbreitungsgebiets. Auffällig ist die weite Erstreckung nach Westen. Sie reicht bis ins Lothringische.20 Als Produktionsorte lassen sich die Städte Metz und Saverne anführen.
Eine Datierung oder die Ermittlung der Laufzeit des Bildmotivs erweist sich als schwierig. Stilistisch und in Ableitung an die künstlerischen Vorlagen kommt als terminus post quem das letzte Viertel des 15. Jahrhundert in Betracht. Von besonderem Interesse sind die Schnabelschuhe von Aristoteles. Sie waren in dem genannten Zeitraum üblich und sind nach 1515 nicht mehr nachweisbar. Obwohl ein Gutteil der Fundstücke aus archäologischem Kontext stammt, sind aufgrund der oft bis ins 17./18. Jahrhundert reichenden Besiedelungen an diesen Orten keine genaueren zeitlichen Angaben möglich. Lediglich bei der Burg Drachenfels (zerstört 1523) und beim Augustinerkloster auf dem Baiselsberg bei Vaihingen (Letzerwähnung 1556)21 finden sich Hinweise, die nahelegen, dass Kachelöfen mit entsprechenden Reliefs noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf diesen Anwesen gestanden haben dürften. In den selbigen zeitlichen Kontext sind Fragmente solcher Kacheln vom Gotthardsberg bei Amorbach zu stellen. Sie stammen aus einer Brandschicht über dem Gewölbe des Prioratshauses östlich der Kirche. Der Zerstörungshorizont kann mit der Verwüstung der Bebauung im Bauernkrieg am 4. Mai 1525 zeitlich in Einklang gebracht werden.
Harald Rosmanitz, Partenstein 2023
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