Was hat ein Einhorn auf Ofenkacheln zu suchen?
Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein Kachelfragment, das aus fünf Einzelscherben zusammengesetzt werden konnte.1 Es wurde 2004, im zweiten Jahr der Grabungen auf der Burg Bartenstein, gefunden.2 Die Ofenkeramik stammt aus den oberen Schichten der Verfüllung des südlichen Zwingers. Die bis zu drei Meter mächtige Auffüllung besteht aus Müll und Bauschutt. Vieles davon ist dem Küchentrakt zuzurechnen, der unmittelbar südlich an die dortige Ringmauer angrenzte.
3D-Modell der Ofenkachel mit Einhorn
Die grün glasierte, oxidierend gebrannte Keramik weist im Bruch einen zweischichtigen Aufbau auf. Ihre Vorderseite ist mit einem verwaschenen Relief besetzt. Darunter zeichnet sich eine dünnen Schicht aus hell brennender Keramik ab. Der Kachelkörper besteht aus rot brennendem Ton. Von dem reliefierten Vorsatzblatt hat sich etwa ein Fünftel erhalten. Augenfällig sind die angewinkelten Beine eines Huftieres und dessen ins Profil gedrehter Körper. In Hintergrund sind baumartige Strukturen zu erahnen. Der Abgleich mit einer Kachel aus dem thüringischen Schmalkalden, der Albrecht Kippenberger im Jahre 1929 eine kleine Abhandlung widmete,3 erlaubt die Ansprache des Reliefs als Wilde Frau mit Einhorn. Das Bildfeld auf der Partensteiner Kachel zeigt demnach eine auf einem Felsen sitzende Frau mit übereinandergeschlagenen Beinen. Ihr unbekleideter Körper ist, abgesehen vom Kopf, fellbesetzt. Er kann aufgrund der Behaarung den im späten Mittelalter sehr populären „Wilden Leuten“ zugewiesen werden.4 Das Gegenstück zur sitzenden Frau bildet in der linken Bildhälfte ein kleiner, belaubter Baum. Vor ihm steht ein Einhorn. Es legt sein rechtes Vorderbein vertrauensvoll auf die sitzende Frau. Die innige Verbundenheit von Einhorn und Frau kommt auch in ihren Händen zum Ausdruck. Mit der Rechten streichelt sie den Nacken des Fabelwesens, ihre Linke umklammert die Spitze eines langen Horns, das dem Fabelwesen aus der Stirn gewachsen ist. Eine breite, gekehlte Leiste schließt das Bildfeld nach außen hin ab. Auf der Kehle liegen schmale, glatte Leisten auf.
Bereits Kippenberger gibt als graphische Vorlage des Motivs einen Kupferstich des Meisters E. S. an.5 Der Kupferstich ist die „Tier-Dame“ des von diesem geschaffenen „kleinen Kartenspiels“.6 Den Schmalkalder Befundkontext am Auertor interpretiert er in Anlehnung an den urkundlich benannten Töpfer „Hans der Töpfer vorm Auertor“ als Abwurf einer spätgotischen Töpferei. Möglicherweise hat Kippenberger auch aus der weißen Behautung des Reliefs geschlossen, dass es sich dabei nicht um ein in einem Ofen eingebautes Endprodukt sondern um einen im Fertigungsprozeß verworfenen Schrühbrand handeln könne. Bei seinen Ausführungen zu den Ofenkacheln vom Augustinerkloster am Baiselberg bei Vaihingen an der Enz stellt Fritz Wullen eine motivgleiche Kachel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen.7 Wie zuvor Kippenberger unterzieht auch Wullen die Darstellung einer eingehenden ikonographischen Betrachtung. Beide sehen als Dreh- und Angelpunkt für die Bilddeutung die Einhornjagd, die Chasse à la Licorne, wie sie auf den um 1500 entstandenen Bildteppichen in Paris und New York ihren bildnerischen Höhepunkt fand.8
Um das Bildmotiv zeitlich wie räumlich besser einordnen zu können, bietet sich ein Abgleich mit den Spielarten der Frau mit dem Einhorn auf Ofenkeramiken an.9 Erste Zusammenstellungen gaben Konrad Strauss (1983), Judit Tamási (1995), sowie Čeněk Pavlík und Michal Vitanovský (2008).10Drei Formen der Darstellung sind demnach deutlich voneinander zu trennen.11
Typ 1: Gruppe der stehenden Jungfrauen neben einem stehenden Einhorn. Diese Bildschöpfung kann, bezogen auf die Ofenkeramik, an den Anfang der Übernahme des Motivs auf Ofenkeramiken gestellt werden. Eine Schlüsselstellung kommt einer um 1370/80 gefertigten Napfkachel mit geschlossenem Vorsatzblatt vom Limmatquai in Zürich zu.12 Die in zeitgenössischer Tracht mit einem langen Kleid mit fließenden Falten und unbedecktem Haar dargestellte Frau wird von dem ihr zur Seite gestellten, steigenden Einhorn geradezu erschlagen. Rudolf Schnyder sieht in der Kachel das linke Segment einer zweiteiligen Jagdszene. Der Jungfrau mit dem Einhorn stellt er einen hornblasenden Jäger mit sehr großem, ebenfalls steigendem Hund entgegen. Erst durch das Nebeneinanderstellen beider Kacheln verliert das Einhorn seine Bedrohlichkeit, wird zu einem Schutzsuchenden. Eine deutlich jüngere Spielart dieses Motives ist für den Straubinger Werkstattbruch aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts belegt.13
Typ 2: Sitzende Maria, ein Einhorn streichelnd. Dieses bislang für die Schweiz und Konstanz belegte Motiv14 kommt in seinem Bildaufbau unserem Relief mit der Wilden Frau erstaunlich nahe. Wie bei der Jungfrau mit stehendem Einhorn lässt sich das von einem taubandbesetzten Medaillon hinterfangene Relief mit einer Kachel mit dem hornblasenden Erzengel Gabriel zu einer Bildfolge zusammenstellen.15 Gabriel befindet sich mit seinen drei angeleinten Hunden offensichtlich auf der Jagd nach dem Einhorn, welches bei der Jungfrau Maria Schutz sucht. Rudolf Schnyder verweist bezüglich der Bildkomposition auf augenfällige Parallelen mit der thronenden Madonna auf der Tafel mit dem Stifter vor der Muttergottes des im Jahre 1444 entstandenen Genfer Petrusaltars.16 Die Reliefgestaltung und der archäologische Kontext verweisen diese Spielart des Motivs in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Typ 3: Sitzende wilde Frau, ebenfalls ein Einhorn streichelnd. Das Motiv unterscheidet sich von seinen beiden Vorgängertypen dadurch grundlegend, dass es von vorne herein als Einzelmotiv verstanden wurde. Bildaufbau und auch die Zeitstellung weisen deutliche Bezüge zu Typ 2 auf. Bei Typ 3 lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Eine davon (Typ 3a) behält die Einbindung des Bildfelds in ein taubandbesetztes Medaillon bei.17 Ein leeres, mehrfach geknicktes Inschriftenband überspannt die sitzende Wilde Frau. Mit mehrfach geknickten, leeren Inschriftenband darüber glich sich diese bislang für die Schweiz, für Bozen18, sowie für die Kirnburg bei Herbolzheim19 nachgewiesene Bildfindung an ähnlich gebildete Kacheln mit dem sitzenden Christuskind20 oder mit den Halbbildern von Propheten21 an. Typ 3b ist jenes Relief zuzuweisen, das den Ausgangspunkt für die vorliegende Abhandlung lieferte. Es lässt sich typologisch an das Ende der Reihe stellen. Dabei wird zwar die Figurenanordnung der ersten Variante von Typ 3 beibehalten, durch den Wegfall des Medaillons entsteht jedoch eine deutlich größere Bildfläche, die nun zusätzlich zu den handelnden Figuren mit einem belaubten Baum belebt ist. Die das Ganze quadratisch rahmenden, sich leicht überkreuzenden, glatten Halbstäbe datieren die Bildfindung unabhängig von der graphischen Vorlage in das letzte Drittel des 15. Jahrhunderts.
Initialzündung am spätgotischen Oberrhein
Die Kartierung der bislang bekannten Kacheln mit Jungfrau und Einhorn liefert erste Informationen zur Verortung des Typs im überregionalen Kontext. Der Verbreitungsraum erstreckte sich demzufolge im Süden und auch im Westen bis in das elsässische Saverne und im Norden bis in das südthüringische Schmalkalden. Den östlichsten Punkt bildet das sächsische Mittweida. Die am größten dimensionierten Kacheln stammen aus einer Werkstatt in Saverne.22 Der Dreh- und Angelpunkt der spätgotischen Kunst am Oberrhein lag jedoch nicht in Saverne, sondern im südöstlich davon gelegenen Straßburg.23 Dort könnte auch der Schöpfer der graphischen Vorlage, der Meister E. S. seine Werkstatt betrieben haben. Initiator des künstlerischen und handwerklichen Austauschs, vom dem die Töpferei in Saverne maßgeblich profitiert haben dürfte, war der Landesherr, der Bischof von Straßburg.
Harald Rosmanitz, Partenstein 2022
Literaturverzeichnis
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- Partenstein, Burg Bartenstein, Schnitt 1, Schicht 2: Fd.-Nr. 1744 sowie Schnitt 5h, Schicht 1, Fd.-Nr. 1514 (Rosmanitz 2017)
- Rosmanitz 2006; Rosmanitz 2008; Rosmanitz 2017, S. 278-279; Rosmanitz 2022, S. 145-147
- Kippenberger 1929
- Rapp Buri/Stucky-Schürer 1990, S. 52-54.
- Appuhn 1989, L. 229, Abb. 245; Höfler 2007, Kat.-Nr. 229; Kippenberger 1929, S. 31, Abb. 2
- Höfler 2007, S. 113-114
- Wullen 1987, S. 121-124
- Berens/Ollivier 2008
- Die übergreifenden Thematiken „Einhorn“ und „Wilde Leute“ finden bei der vorliegenden Betrachtung keine Berücksichtigung.
- Strauss 1983, S. 13-14, Taf. 24-25; Tamási 1995, S. 49-50; Pavlík/Vitanovský 2008
- Rosmanitz 2017, S. 277-278
- Schnyder 2011, S. 78-80, Kat.-Nr. 64
- Endres 2005, S. 74, Abb. 21
- Tamási 1995, S. 49-50; Schnyder 2011, S. 303-304, Kat.-Nr. 241
- Anderes 1965; Schnyder 2011, S. 302, Kat.-Nr. 240
- Brinkmann 2011, S. 135
- Tamási 1995, S. 50; Schnyder 2011, S. 364-365, Kat.-Nr. 308. Schnyder zieht aus den bildnerischen Vorlagen Schlüsse auf die mögliche Beschriftung des Schriftbands.
- Ringler 1965, S. 37-41, Taf. 8, Abb. 19
- Knappe 1983
- Rosmanitz 2012, S. 90-93
- Rosmanitz 1994, S. 297, Abb.197
- Saverne, 6 rue Neuve, Grabung 2003 (Saverne CRAMS, Inv. Nr. 506.0010.0001-0007 WA), H. 20,5 cm, Br. 19,5 cm
- Recht 2011