Anlässlich von Grabungen auf der Burg Altleinigen bei Grünstadt/Pfalz im Jahre 1938 wurden zahlreiche Kachelfragmente zu Tage gefördert. 22 Fragmente konnten bislang in FurnArch erfasst werden (Stand August 2020). 12 davon werden im Heimatmuseum in Amorbach aufbewahrt. Weitere zehn Kachelstücke befinden sich heute im Museum im Alten Rathaus in Grünstadt. Die Burg gehört zusammen mit der Hardenburg bei Bad Dürkheim und der Burg in Neuleinigen zu einer Gruppe von beeindruckenden Gebäudekomplexen, die von den begüterten Grafen von Leiningen am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhundert nochmals umfangreich ausgebaut wurden. Während des Pfälzischen Erbfolgekrieges wurden Alt- und Neuleinigen vollständig zerstört. Die Hardenburg ereilte dieses Schicksal erst knapp hundert Jahre später durch französische Revolutionstruppen. Allen drei Burgen gemeinsam ist ihre opulente Ausstattung mit manieristischen Kachelöfen. Während aus Alt- und Neuleinigen bislang lediglich furnologische Einzelfunde bekannt sind, hat sich im archäologischen Kontext der Hardenburg ein deutlich größerer Bestand erhalten. Hier konnten bislang 1184 Kachelfragmente in FurnArch erfasst werden.
Am Beispiel der Gesimskachel mit Grotesken soll auf den bildnerischen Anspruch verwiesen werden, den die Grafen von Leiningen mit der prestigeträchtigen Innenausstattung ihrer Gemächer den staunenden Gästen darboten.
Das 8,4 cm hohe, 9,7 cm breite und 2,3 cm tiefe Kachelfragment zeigt einen stark verfremdeten, grotesk (!) anmutenden Löwenkopf. Er wird seitlich von kannelierten Pfeilern flankiert. Ein im Fragment gerade noch zu erkennender Ansatz eines weiteren Kopfes am linken Rand lässt vermuten, dass wir einen mit ähnlich gebildeten Köpfen besetzten Fries vor uns haben, der mit einer glatten, an beiden Seiten leicht gekehlten Leiste nach oben angeschlossen wurde.
Das Bildfeld der dunkelbraun glasierten Ofenkeramik lässt sich über eine Kachel aus Eltville1 ergänzen. Demnach ist das Altleiniger Stück als Gesimskachel mit fallendem Karnies zu vervollständigen. Unter einer glatten Leiste liegt eine mit Grotesken besetzter Fries, wobei die Grotesken durch sich nach oben und unten erweiternde, kannelierte Pfeiler voneinander getrennt wurden. Ein schmaler, akanthusblattbesetzter Fries, der seinerseits auf einer glatten Leiste aufliegt, schließt das Bildfeld nach unten ab.
Gesimskacheln mit Grotesken
Charakteristikum der Groteske (ital. grottesco) in der vorliegenden Form ist die Nichteinhaltung von als verbindlich erachteten Gestaltungsprinzipien. Als von der Antike abgeleiteter Dekor bildet die Groteske (in älterer Schreibweise Grotteske) gemeinsam mit der Maureske und der Arabeske jenes Motivspektrum ab, das für die ornamentale Gestaltung von Wandmalereien, aber auch von kunsthandwerklichen Objekten in der Renaissance und im Manierismus tonangebend war. Die exotischen, bizarren und phantasievollen Konstrukte der Grotesken stellen die gottgegebene Ordnung in Frage. Aus der scheinbar wahllosen Kombination von Versatzstücken aus Flora und Fauna mit leblosen Dingen entsteht ein neues, bizarr wirkendes Wesen. Einer der Meister der Grotesken, der dieses Spiel von Formen und Bedeutungsebenen auf höchstem Niveau handhabte, war der Maler Guiseppe Arcimboldo (1526-1593). Seine Bildschöpfungen aus der Zeit, als er als Hofmaler Kaiser Rudolfs II. in Prag tätig war, lieferten zahlreiche Anregungen für die Surrealisten des 20. Jahrhunderts.
Die Groteske auf der Altleininger Gesimskachel wurde nach Vorlagen des Antwerpener Stechers Frans Huys geschaffen (1522-1562).2 Dieser wiederum erhielt die Anregung für seine im Jahre 1555 edierte, elfteilige Bildfolge von dem ebenfalls in Antwerpen ansässigen Frans Floris (1514-1575). Der vom stadtrömischen Domus Aurea und von den vatikanischen Stanzen abgeleitete Dekor wurden erstmals vom italienischen Monogrammist IHS auf Druckgraphiken übernommen.
Graphische Vorlage der Gesimskacheln mit Grotesken
Die Gesimskachel mit Grotesken haben ihren Verbreitungsschwerpunkt im Rhein-Main-Raum.3 Beachtenswert ist das Aufkommen im bayerischen Ingolstadt. Möglicherweise haben wir es dort mit einem Motivtransfer zu tun. Die gegenreformatorische Kaderschmiede Ingolstadt ließ im 17. Jahrhundert zahlreiche dort verfasste Schriften in Frankfurt/Main verlegen. Die Motivübernahme spricht dafür, dass dieser Handelstransfer sich nicht nur auf Bücher beschränkt haben dürfte.
Vieles deutet darauf hin, dass die Groteskenköpfe Frans Huys‘ im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in Frankfurt am Main auf Ofenkeramiken übertragen wurden. Sie spielen im furnologischen Werkschaffen des seit 1610 in Frankfurt am Main ansässigen Modelschneiders Johannes Vest4 eine große Rolle. In erster Linie schmückte Johannes Vest damit die rahmenden Arkaden seiner großformatigen Blattkacheln aus. Die hier vorgestellte Gesimskachel mit Groteskenbesatz weist eine große stilistische Nähe zum Werkschaffen des Frankfurter Designers auf.
Im Spektrum der Kachelmotive aus Altleiningen, besonders aber von der Hardenburg wird die Nähe zu der innovativen und marktbeherrschenden Frankfurter Kachelwerkstatt deutlich spürbar. Diese bestimmte unter anderem die Innenausstattung des nach 1607 möblierten Friedrichsbaus des Heidelberger Schlosses. Die dafür gefertigten Kacheln stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Werkstatt in der Unteren Neckarstraße.5 Ob die Grafen von Leiningen bei der Wahl ihrer Öfen durch die Angebotspalette der Messestadt Frankfurt/Main oder von der Heidelberger Hofhaltung maßgeblich beeinflusst wurden, lässt sich ohne weiterführende, naturwissenschaftliche Untersuchungen nicht klären. Als sicher darf gelten, dass das Aufstellen hochmoderner und sehr qualitätsvoll gearbeiteter Öfen einen beachtlichen finanziellen Aufwand erfordert haben dürfte. Aus Prestigegründen war man bereit, hier ordentlich zu investieren.
Von der Selbstdarstellung der Grafen von Leinigen sind vom Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch Ruinen und Scherben übriggeblieben. Das in der Pfalz ansässige Grafengeschlecht lebt heute im bayerischen Amorbach.
Weitere Keramiken mit Grotesken
Weiterführende Literatur:
Werner Endres, Kacheln und Geschirre der Bogener Hafnermeister Georg Pösinger und Hans Gabriel um 1700, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für Straubing und Umgebung 91 (1989), S. 211, Taf. 1, Kat.-Nr. 1.
Ole Kristiansen, Katalog der Ofenkachel-Matrizen, in: Frauke Witte, Kristin E. Gebhardt (Hg.), Archäologie in Flensburg. Ausgrabungen am Franziskanerkloster (Schriftenreihe der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte Bd. 57), Flensburg 2003, S. 287, Abb. 93.
Carsten-Peter Warncke, Die ornamentale Groteske in Deutschland 1500-1650, (Quellen und Schriften zur bildenden Kunst) Berlin 1979.
© Harald Rosmanitz, Partenstein 2020
- Wiesbaden, Stadtmuseum am Markt, Sammlung Nassauische Altertümer
- Marijnke de Jong, Irene de Groot, Ornamentenprenten in het Rijksprentenkabinet I. 15de & 16de eeuw, s´Gravenhagen 1988, S. 87.89, Kat.-Nr. 78
- In FurnArch wurden bislang 17 Fragmente dieses Motivs erfasst (Stand August 2020).
- Ludwig Döry, Die Kacheln von Johannes Vest, in: Gerhard Ermischer (Hg.), Schlossarchäologie. Funde zu Schloß Johannisburg in Aschaffenburg, Aschaffenburg 1996, S. 78–80; Otto Lauffer, Der Kachelofen in Frankfurt, in: Verein für Geschichte und Alterthumskunde Frankfurt a. Main (Hg.), Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens des Städtischen Historischen Museums in Frnakfurt am Main, 1093 Frankfurt am Main, S. 103–147; Karl Simon, Johannes Vest v. Creussen in Frankfurt am Main, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft 14 (1921), S. 56–69
- Berndmark Heukemes, Archäologische Beobachtungen im Erweiterungsgebiet des Kurpfälzischen Museums in Heidelberg, in: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1986 (1986), S. 287–290; Renate Ludwig, Manfred Benner, Ulrich Klein, Tilly vor Heidelberg. Neue Befunde zur Archäologie der frühen Neuzeit, in: Peter Wolf (Hg.), Der Winterkönig – Friedrich von der Pfalz. Bayern und Europa im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2003, S. 139–149