Motive: Musen aus Rodenbach

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Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Thaleia; graphitiert, ca. 1600, H. 28,3 cm, Br.17,0 cm; Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13

Bei Entschuttungsarbeiten in der Kirchstraße 13 in Rodenbach (Main-Kinzig-Kreis) kamen die Reste mehrerer kleinteilig zerscherbter Kacheln zu Tage. Sie werden im Heimatmuseum in Rodenbach aufbewahrt.1 Die Fragmente lassen sich sieben Kacheln zuweisen.

Eine davon, eine gelb glasierte Halbzylinderkachel mit einfach genastem Kielbogen mit Kreuzen in den Nasen unter einer eichelförmigen Kreuzblume sowie mit Eicheln und doppelten Speichenrädern in den Zwickeln kann in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert werden. Sie steht in der Gemeinde im Kinzigtal am Anfang des Heizens mit reliefierten Kachelöfen.

Bezüge zu Frankfurt am Main

Die umfangreichere Gruppe der Fundstücke von der Kirchstraße ist deutlich jünger. Den zeitlichen Rahmen hierfür gibt das Fragment des Rahmens einer Blattkachel mit Frauenmaske mit Radhaube und Serviettenkragen vor. Es läßt sich im Umfeld des um 1600 in Frankfurt am Main tätigen Johannes Vest verorten.2 Zwei vollständig erhaltene Kacheln im Schloßmuseum Büdingen geben uns eine Vorstellung vom ursprünglichen Aussehen der Ofenkeramik. Das Innenfeld der einst mehr als 45 Zentimeter hohen Kachel war von einer Arkade umschlossen. Ihr Unterbau bestand aus einer hohen Sockelzone mit auskragendem, als Podest ausgebildetem Mittelteil. In diesem ist jener Frauenkopf mit Radhaube und Serviettenkragen zu verorten, der sich auch in Rodenbach erhalten hat. Auf dem Podest fußten Pfeiler mit davor stehenden Engeln. Der Rechte davon konnte als Attribut mit einem Lamm aufwarten. Über korinthischen Kapitellen spannte sich ein Bogen mit einer Löwenmaske im Bogenscheitel. Von diesem ging zu beiden Seiten ein Tuch aus, das von zwei in den Zwickeln stehenden Frauen gehalten wurde.

Die Rodenbacher Musen

Alle weiteren Kachelfragmente von der Kirchstraße 13 in Rodenbach unterscheiden sich bei annähernd gleichen Abmessungen lediglich in den Besätzen ihrer Innenfelder voneinander. Auf einem davon ist eine sitzende Frau zu erkennen. Sie hat ihren Kopf nach links gedreht. Ihr Körper weist frontal auf den Betrachter. Die Frau ist in antiker Art gekleidet. Das weit geschnittene Gewand mit rechteckigem, brustfreiem Halsausschnitt wird über den Oberarmen von Fibeln zusammengehalten. Der antiken Kleidung nachempfunden sind auch die wadenhoch geschnürten Sandalen. Die Gewandung hebt die einzelnen Körperteile hervor. Das geraffte Kleid lässt das linke Bein frei. Als Antikenzitat ist auch der Lorbeerkranz zu verstehen, den die Dargestellte im kurzen, lockigen Haar trägt. Mit ihrer Rechten greift die Sitzende in die Saiten einer Ciste, eines lautenartigen Musikinstruments.


Kacheln von der Kirchstraße 13 in Rodenbach

Halbzylinderkachel mit einfach genastem Kielbogen
gelb glasiert, ca. 1420, H. 29,8 cm, Br. 18,2 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Rahmen einer Blattkachel mit Pfeilern mit stehenden Engeln
graphitiert, ca. 1600, H. 6,6 cm, Br. 6,7 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Thaleia
graphitiert, ca. 1600, H. 28,3 cm, Br.17,0 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Polymneia
graphitiert, ca. 1600, H. 29,3 cm, Br.17,6 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Polymneia
graphitiert, ca. 1600, H. 26,6 cm, Br.17,3 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Cleio
graphitiert, ca. 1600, H. 28,2 cm, Br.17,0 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Cleio
graphitiert, ca. 1600, H. 29,1 cm, Br.17,2 cm;

Rodenbach Heimatmuseum, urspr. Rodenbach Kirchstr. 13

 

Ein Motiv in vielen Rahmen

Die Rodenbacher Ausprägungen der Serie mit stehenden und sitzenden Frauen sind von einer Doppelarkade umschlossen, deren Sockel mit Diamantschnitt besetzt sind. Darüber erheben sich beidseitig kannelierte Halbsäulen vor Pfeilern. Auf mehrfach getreppten Gesimsen fußt ein leicht überhöhter Bogen mit kassettierter Bogenlaibung. Die dreifach gestaffelte Archivolte ist mit einem laufenden Hund, mit einem Perlstab sowie mit einem Punktbuckelfries bestückt. Geflügelte Puttenköpfe in den Zwickeln vervollständigen den übersichtlich gegliederten, portalartigen Rahmen.

Die Bildfolge kann in unterschiedlich ausgebildete Arkaden eingebunden sein. Unter Hinzunahme von südhessischem Vergleichsmaterial sind vier Rahmenarten unterscheidbar:

Dem beschriebenen Rahmen mit segmentierten Halbsäulen ist der Rahmen mit Dreifacharkade am ähnlichsten. Er setzt sich aus diamantschnittbesetzten Sockeln, kannelierten Halbsäulen vor Pfeilern, einer kassettierten Bogenlaibung sowie aus einer mit Zahnschnittfries und Eierstabfries besetzten Archivolte zusammen. Hinzu kommt ein Zwickelbesatz mit geflügelten Puttenköpfen.

Als leicht vereinfachte Version dieses Typus ist der Rahmen mit Doppelarkade anzusprechen.3 Die Doppelarkade fußt auf diamantschnittbesetzten Sockeln. Darüber erheben sich kannelierten Halbsäulen vor Pfeilern. Eine kassettierte Bogenlaibung mit einer mit Zahnschnittfries und Eierstabfries besetzten Archivolte sowie geflügelte Puttenköpfe in den Zwickeln schließen das Konstrukt nach oben hin ab.

Der Rahmen mit tordierten Säulen ist deutlich einfacher ausgebildet. Er setzt sich aus einer Doppelarkade mit glatten, tordierten Halbsäulen vor Pfeilern unter einer kassettierten Bogenlaibung zusammen. Die beiden oberen Zwickeln sind mit geflügelten Puttenköpfen besetzt.


Rahmentypen mit der Serie der Musen

Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle mit Rahmen mit segmentierten Halbsäulen: Melpomene
graphitiert, 17. Jh., H. 29,8 cm, Br. 17,5 cm;

Fulda Vonderau Museum, Inv.-Nr. IV E 0125, urspr. Fulda (?)
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle mit Rahmen mit Dreifacharkade: Melpomene
unglasiert, Ende 16. Jh., H. 30,6 cm, Br. 22,0 cm;

Marburg MKK, Inv.-Nr. 15.841
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle mit Rahmen mit Doppelarkade: Caliope
dunkelbraun glasiert, Anfang 17. Jh., H. 28,9 cm, Br. 16,8 cm;

Worms MSW, Inv.-Nr. 4253, urspr. Worms (?)
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle mit Rahmen mit tordierten Säulen: Therpsichore
grün glasiert, Mitte 16. Jh., H. 21,1 cm, Br. 19,2 cm;

Gerolzhofen Stadtmuseum, urspr. Geroldshofen Altstadt

 

Impulse aus Antwerpen

Bei ihrer ausführlichen Beschäftigung mit der reliefierten Ofenkeramik aus Köln konnte Ingeborg Unger das Bildprogramm der neunteiligen Motivfolge entschlüsseln.4 Es handelt sich um die Serie der Musen. Ihnen gehören Cleio (Geschichtsschreibung), Melpomene (Gesang und Tragödie), Thaleia (Komödie), Euterpe (lyrische Poesie), Therpsichore (Tanz), Erato (Lyrik), Calliope (epische Dichtung und Wissenschaft), Urania (Astronomie) sowie Polymenia (Gesang) an. Für Rodenbach sind aus dieser Bilderfolge die Darstellungen von Thaleia, Cleio und Polymenia belegt. Die beiden letztgenannten Musen waren jeweils auf mindesten zwei Kacheln in der Ofenwandung präsent.

Die Reliefs sind nach Kupferstichen des Antwerpener Kunsthändlers und Kupferstechers Philip Galle (1537-1612) gearbeitet. Dieser wiederum bezog seine bildnerische Anregung von dem ebenfalls in Antwerpen ansässigen Maler Marten de Vos (um 1531-1603). Vergleicht man die Druckgraphik der Thaleia mit dem Relief, das auf der Kachel aus Rodenbach zum Tragen kam, so wird deutlich, dass mit der Umwandlung in ein dreidimensionales Medium ein erheblicher Qualitätsverlust einherging. Feinheiten, wie sie beispielsweise die Kleidung der sitzenden Frau bereicherten, mussten beim grob zeichnenden Medium Keramik weggelassen werden. Dies gilt auch für den szenisch belebten Bildhintergrund. Andere Details wurden bei der Übertragung nicht verstanden. Dies lässt sich bei der Gestaltung des Lorbeerkranzes im Haar der Thaleia beispielhaft fassen. Die Änderungen gingen so weit, dass die Sitzende zur Einpassung in den voluminösen Rahmen zum Betrachter hin gedreht werden musste. Die kleinteiligen Rahmenarchitekturen machen es schwer, der inneren Ruhe, die den Figuren auf den Kupferstichen zu eigen ist, auch auf den Kachelreliefs nachzuspüren.


Graphische Vorlagen der Musen

Serie mit den Musen: Cleio (1)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Melpomene (2)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Thaleia (3)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Euterpe (4)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.


Serie mit den Musen: Therpsychore (5)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Erato (6)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Calliope (7)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Urania (8)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.
Serie mit den Musen: Polymenia (9)

Kupferstich von Philip Galle nach Maarten de Vos, Ende 16. Jh.

 

Die Beliebtheit des Motivs im Rheinland und in Südhessen führt uns vor Augen, wie stark unsere Sichtweise von der unserer Vorfahren abweicht. Als wichtigste göttlichen Instanzen der Inspiration kam den Musen in der Antike ebenso wie in der Antikenrezeption größte Bedeutung zu. Dabei standen die von ihnen vertretenen Ideale stets in deutlichem Widerspruch zu christlichen Vorstellungen. Ähnlich wie die Freien Künste5 verstehen sich die Musen als Verkörperungen des humanistischen Bildungsideals, eines Lebensziels, das den höchsten Genuss in den von den Allegorien verkörperten geistigen Tätigkeiten sah. Dies wirkt auf den heutigen Betrachter ähnlich befremdlich und aus der Zeit gefallen wie die Musikinstrumente, die einigen der Frauen auf den Kachelreliefs beigegeben sind.

Humanismus für jeden

Die Bildideen für Reliefs auf Ofenkacheln kamen seit der Spätgotik unter anderem von Druckgraphiken.6 Zahlreiche Anregungen lieferten in der Renaissance in Nürnberg tätige Künstler. Um 1600 war die Kunst- und Handelsmetropole Antwerpen auch auf diesem Sektor tonangebend. Beispielhaft seien in diesem Zusammenhang auf die Serie die vier Weltreiche nach Marten de Vos7 und auf die Bildfolge der vier Elemente nach Hendrick Goltzius (1558-1616/17)8 verwiesen. Auf letztgenannten Künstler geht auch die Bildfolge der oberrheinischen Apostelserie zurück.9

Verbreitung der Blattkacheln aus der Serie der Musen nach Philip Galle. Karte: Sabrina Bachmann, Heimbuchenthal.Bildhauer, Modelschneider, Stuckkateure und andere bildgebende Handwerker setzten den zweidimensionalen Entwurf in Reliefs um. Davon abgenommenen Negativformen, die Model wurden auf überregionalen Märkten verhandelt. Eine wichtige Rolle kam dabei Handelszentren wie Frankfurt am Main oder Leipzig zu. Die weite Verbreitung der Serie der Musen erstreckt sich von Westen nach Osten gesehen von Köln bis nach Hildburghausen. Im Süden markieren Worms, im Norden das nördlich von Kassel gelegene Grebenstein die äußeren Grenzen der Gebietskulisse. Einem einzigen Töpfer wäre es nicht möglich gewesen, über so weite Strecken das Motiv zu verhandeln. Daher verwundert es auch nicht, dass die Fertigung reliefierter Blattkacheln mit den Musen für das rheinische Andernach ebenso belegt ist wie für den Klaushof bei Neukirchen10 und für Bad Neustadt an der Saale. Es ist davon auszugehen, dass mit diesen Nachweisen lediglich die Spitze eines Eisbergs sichtbar gemacht werden kann. Gleiches gilt für das Verbrauchermilieu. Auch weit außerhalb des hier skizzierten Verbreitungsgebietes lässt ich der Einsatz solcher Kacheln belegen: für das slowenische Kozlovega Roba bei Tollin11 und die ebenfalls in Slowenien gelegenen Burgen von Samic und Donja Stubica.12


Motive der Serie der Musen nach Galle

Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Cleio
graphitiert, 17. Jh., H. 28,4 cm, Br. 20,2 cm;

Schlüchtern, Bergwinkelmuseum
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Melpomene
grün glasiert, Anfang 17. Jh., H. 26,4 cm, Br. 24,4 cm;

Hildburghausen Privatbesitz, urspr. Hildburghausen Knappengasse 26
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Thaleia
dunkelbraun glasiert, 17. Jh., H. 20,5 cm, Br. 20,0 cm;

Römhild Steinsburgmuseum Inv.-Nr. 23778, urspr. Hildburghausen Schlossplatz (11/55)
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Euterpe
grün glasiert, Anfang 17. Jh., H. 22,1 cm, Br. 19,2 cm;

Hildburghausen Privatbesitz Inv.-Nr. HH BT 30, urspr. Hildburghausen Knappengasse 26
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Therpsychore
grün glasiert, Mitte 16. Jh., H. 21,5 cm, Br. 19,5 cm;

Gerolzhofen Stadtmuseum, urspr. Gerolzhofen, Spital ?, Baugrube Rooß
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Erato
grün glasiert, Anfang 17. Jh., H. 22,2 cm, Br. 19,2 cm;

Hildburghausen Privatbesitz Inv.-Nr. HH BT 32, urspr. Hildburghausen Knappengasse 26
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Calliope
unglasiert, Anfang 17. Jh., H. 29,3 cm, Br. 17,3 cm;

Friedberg, Wetterau-Museum Inv.-Nr. 79/66, urspr. Friedberg (?)
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Urania
graphitiert, 17. Jh., H. 29,1 cm, Br. 16,7 cm;

Fulda, Vonderaumuseum Inv.-Nr. IV E 0118, urspr. Fulda (?)
Blattkachel aus der Serie der Musen nach Philip Galle: Polymneia
graphitiert, Anfang 17. Jh., H. 28,4 cm, Br. 16,3 cm;

Friedberg, Wetterau-Museum Inv.-Nr. 79/68, urspr. Friedberg (?)

 

Die Kacheln aus Rodenbach zierten ursprünglich den Oberteil eines Kombinationsofens.13 Dessen Feuerkasten bestand aus teuren gußeisernen Ofenplatten. Darüber erhob sich ein keramischer Aufsatz. Der keramische Part einer solchen Raumheizung mit unglasierten Kacheln aufgeführt. Später glich man die beiden Ofensegmente durch einen flächigen Graphitauftrag einander an. Wie man sich einen solchen Ofen in seiner Gesamtheit vorzustellen hat, ist im Tafelgemach des Schlosses Wilhelmsburg im thüringischen Schmalkalden zu bestaunen.14 In ihrer Gestalt und Funktion ähnlich aber mit anderen Motiven versehen sind die Kombinationsöfen im Kanzleibau des Büdinger Schlosses.

Sich einen Kombinationsofen setzen zu lassen, war sicher eine kostspielige Angelegenheit. Dass man diesen dann auch noch mit einem sehr ambitionierten Bildprogramm versah, in dessen Mittelpunkt großformatige Kacheln aus dem Werkstattumfeld des Johannes Vest in Frankfurt am Main gestanden haben dürften, wirft ein weiteres Licht auf die gehobene soziale Stellung jener Person, die als Auftraggeber dieses Ofens in Betracht zu ziehen ist.

Das Dorf und die Musen

Wie lässt ich also begründen, warum um 1600 ein dermaßen hochwertiger Alltagsgegenstand, der gleichzeitig auch der Repräsentation des Hausherrn dienlich sein konnte, im ländlichen Raum zu verorten ist? Die einfachste Erklärung hierfür wäre es, dass der Ofen, nachdem er anderenorts in einem Schloss oder in der guten Stube eines Frankfurter Handelsherren gestanden hatte, in Zweitaufstellung seinen Weg nach Rodenbach fand.

Dieser Interpretationsansatz sollte allerdings nicht der Weisheit letzter Schluss sein. In einer langen, vergleichsweise friedvollen Epoche, die ihr jähes Ende im Dreißigjährigen Krieg fand, war der gesamte Rhein-Main-Raum zu unvergleichlichem Wohlstand gekommen. Frankfurt am Main aber auch kleinere Städte wie die Residenzstadt Büdingen erfuhren eine Aufwertung, die sich bis heute im Weichbild dieser Kommunen abzeichnet. Gleiches ist für den die urbanen Zentren umgebenden ländlichen Raum zu postulieren. Eine bedeutende Rolle kam der Infrastruktur zu. Für das Kinzigtal, in dem Rodenbach liegt, sollte auf die Via Regia verwiesen werden. Jene europaweite Fernhandelsstraße verband unter anderem Frankfurt am Main über Gelnhausen mit Erfurt. Über Nebenstrecken waren Antwerpen und Köln an dieses Straßensystem angeschlossen. Der Fernweg brachte Wohlstand, auch nach Rodenbach. Mode- und Stiltrends fanden vergleichsweise schnell ihren Weg in die an oder in unmittelbarer Nähe zu ihm gelegenen Dörfern. Gleichzeitig schuf sie den Bedarf, ja die Notwendigkeit, Reisende mit repräsentativ ausgestatteten Räumlichkeiten beeindrucken zu müssen. Mit dem Dreißigjährigen Krieg offenbarte sich die Schattenseite der verkehrsgünstigen Lage. War es zuvor ein unbestrittener Vorteil, sich im Zentrum eines europaweiten Verkehrsnetzes zu befinden, sah man sich in der Folge inmitten eines permanenten Durchzugsgebiet von Söldnerheeren.

Die gußeisernen Platten des Kombinationsofens aus der Kirchstraße ließen sich nach dem Abtragen des Ofens anderweitig verwerten. Die dabei zerbrochenen Kacheln des Oberofens blieben vor Ort. Mit ihnen hat sich in Rodenkirchen ein durchaus beachtenswertes Relikt aus der großen Zeit um 1600 erhalten. Die Kacheln von der Kirchstraße geben uns eine Vorstellung davon, dass das Stadt-Land-Gefälle am Übergang von der Renaissance zum Barock kaum so groß gewesen sein kann, wie es gerne von Historikern heraufbeschworen wird. Dies dürfte das Lebensgefühl und die Alltagskultur einiger Ortsansässiger ebenso betroffen haben wie deren Kaufkraft.

Harald Rosmanitz, Partenstein 2022


 

Literaturverzeichnis

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  1. Mein Dank gilt Matthias Basile vom Rodenbacher Geschichtsverein, der mich auf die Stücke aufmerksam machte und es mir ermöglichte, diese im Dezember 2020 fotografisch zu dokumentieren.
  2. Lauffer 1903, S. 137-141; Simon 1921; Lasch 2004, S. 36-37; Hampel/Lasch 2010, S. 836-844
  3. Dieser Typ wurde von Ingeborg Unger in eine schmal und eine mittelbreite Ausfertigung untergliedert (Unger 1988, S. 200-201).
  4. Unger 1983, S. 243-244; Unger 1988, S. 200-213
  5. Rosmanitz 2014
  6. Rosmanitz 2012; Žegklitz 2012
  7. Krueger 1984; Rosmanitz 1996b
  8. Rosmanitz 1995, S. 130-135
  9. Rosmanitz 1996a; Rosmanitz 2000
  10. Heidenreich 2009, Bd. 2, Taf. 187
  11. Gaspari et al. 1994, S. 74, Abb. 35
  12. Škiljan 2019, S. 231, Abb. 7.2-3
  13. Funck 2015
  14. Stephan 1997, S. 75-76, Abb. 30