Großflächige Abrissarbeiten im Zuge der Stadterneuerung von Ettlingen führten in den 1980er und 1990er Jahren zu großflächigen Ausgrabungen durch das Landesdenkmalamt Baden-Württemberg.1 Ziel der Bodenuntersuchungen war es, im Vorgriff der Anlage von Kellern und Tiefgaragen die Spuren der römischen Besiedlung der badischen Kleinstadt beiderseits der Alb archäologisch zu fassen. Gleichsam als Nebenprodukt wurden dabei auch zahlreiche mittelalterliche und neuzeitliche Befunde und Funde zu Tage gefördert. Vieles davon stammt aus dem Jahre 1689, als Ettlingen im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekriegs von französischen Truppen vollständig in Schutt und Asche gelegt wurde.
In besagtem Brandschutt lagen unter anderem die Reste eines verstürzten Kachelofens, der 1979 an der Ecke Entengasse/Kirchgasse aufgedeckt werden konnte.2 Neben einer Blattkachel mit dem reitenden Kurfürsten zu Mainz war es in erster Linie eine Kachelfolge aus der Serie der Sinne in Form sitzender Frauen, die die Oberfläche dieses einst repräsentativen Ofens schmückte.
Das hier vorgestellte Kachelrelief setzt sich aus acht Fragmenten zusammen. Nur wenige Teile des Innenfelds sowie ein Gutteil des rechten und unteren Kachelrahmens mussten in Gips ergänzt werden. Die Kachel sind unglasiert. Der nachträglich aufgebürstete Graphit dürfte beim Säubern der ergrabenen Kachelbruchstücke vollständig beseitigt worden sein. Gleiches gilt für die Schmauchspuren an der Kachelrückseite.
Das Relief des runden Innenfelds wird von einer ganzfigurigen, sitzenden Frau eingenommen. In ihr hochgestecktes Haupthaar sind verzierte Bänder eingearbeitet. Die Frau trägt ein knöchellanges Gewand mit gebauschten Ärmeln und blattbesetztem Kragen. Die antikisierte, fein gefältelte Kleidung verhüllt den darunterliegenden Körper fast vollständig. Die Allegorie der Musik ist in das Spielen einer Knickhalslaute vertieft. Die Melodie liest sie von einem aufgeschlagenen Notenheft ab, das zu ihren Füßen auf dem grasbewachsenen Boden liegt. An der niedrigen Mauer, auf der sie sitzt, lehnen eine Trommel, eine Gambe und ein Zink. Sie unterstreichen die Bandbreite des musikalischen Wirkens der Dargestellten. Neben einem Baum zu Rechten der Sitzenden liegt im Bildhintergrund ein Hirsch mit mächtigem Geweih. Er blickt zu der sitzenden Frau empor. Ein rundes, lorbeerblattbesetztes Medaillon schließt das Innenfeld nach Außen ab. Zur Bildmitte ausgerichtete, geflügelte Puttenköpfe in den Zwicken und eine annähernd quadratische Leiste mit glattem Viertelstab und ebenfalls glatter Leiste vervollständigen den Kachelrahmen.
Die Kachel ist Teil einer Serie, bestehend aus den fünf Sinnen, dem Hören, dem Sehen, dem Riechen, dem Fühlen und dem Schmecken. Als sechster Bestandteil ist in Ausnahmefällen auch die unkanonische Verkörperung der Geschwindigkeit in die Bildfolge eingebunden. In ihrer Darstellung entspricht diese der Allegorie des Fühlens. Im Ofenversturz in der Entengasse/Kirchgasse sind vier der Sinne nachgewiesen, das Hören, das Fühlen, das Riechen (2 St.) und das Schmecken.
Serie der Sinne als Sitzende aus Ettlingen
Allegorie | beigestelltes Tier | Attribute |
Hören | Hirsch | Musikinstrumente |
Sehen | Adler | Handspiegel, sonnenartig |
Riechen | Hund | Blumentopf |
Fühlen | Papagei und Schildkröte | Spinnennetz |
Schmecken | Meerkatze | Korb mit Früchten |
In Manierismus schien man geradezu davon beseelt zu sein, Serien mit Verkörperungen menschlicher Eigenschaften in allen Lebensbereichen deutlich sichtbar darzustellen. Ob an Hausfassaden, auf Brunnentrögen, auf metallenen Pokalen oder auf Kachelöfen – überall war man von diesen Erinnerungen an die Vergänglichkeit und Mahnungen an ein der Heilslehre konformes Leben umgeben. Dabei ging man sogar so weit, die traditionellen Serien eigenmächtig zu erweitern. Das Relief mit der Darstellung des Fühlens wurde, wie zwei Kacheln im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe und in Offenburg zeigen, durch eine Inschrift in die Geschwindigkeit umgewandelt.
Waren die Sinnesallegorien am Übergang von der Spätgotik zur Renaissance eng mit christlichen Themen verschränkt, so kristallisierte sich seit dem Manierismus eine deutlich dem Weltlichen zugewandte Rezeption des Themas heraus.3 Beredtes Zeugnis ist die Bildfolge aus der Vest-Werkstatt in Nürnberg, die nach Druckgraphiken von Jan Sænredam gearbeitet wurden, die ihrerseits wiederum auf Vorlagen von Hendrick Goltzius zurückgehen.4 Sænredam ist nur einer von vielen namhaften Künstlern und Graphikern, die sich des Bildthemas annahmen. Entsprechend häufig gelingt der Nachweis der Übernahme solcher Serien auf Kachelreliefs.5 Charakteristisch für alle in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Serien der Sinne ist der kleinteilige Bildaufbau. Einer oder mehrerer im Vordergrund agierenden Personen ist eine Vielzahl von Attributen, sowohl in Form von Tieren als auch von Objekten beigegeben. Letztere ermöglichen eine genaue Ansprache des oder der Dargestellten. Im 17. Jahrhunderts behält man die Verkörperung durch eine Frauengestalt bei und stellt diese mehr und mehr unter deutlicher Reduzierung der Attribute in den Mittelpunkt der Darstellung. Welche Auswirkungen dies auf das Bildkonzept hat, wird beim Vergleich der hier vorgestellten Bildfolge mit der Serie der Sinne mit Frauenbüsten deutlich.
Das Motiv in der vorliegenden Form geht auf Graphiken zurück, die Cornelis Cort im Jahre 1561 nach Entwürfen von Frans Floris anfertigte.6
Graphische Vorlage für die Serie der Sinne als Sitzende
Ähnlich wie bei der Serie der Elemente vom Typ Saumarkt7 lassen sich die danach oder zumindest nach ähnlichen Stichen gearbeiteten Kachelreliefs in zwei Gruppen unterteilen:
In Mitteldeutschland und an der Ostsee waren großformatige Kacheln in Gebrauch, bei denen die über 40 cm hohen Innenfelder mit den Allegorien der Sinne von einer Arkade umschossen sind.8 Als Produktionsschwerpunkt ist auf die ehemalige Töpferei im Bereich des Wilhelm-Leuschner-Platz in Leipzig zu verweisen.9 Weitere Fertigungsstandorte lassen sich über entsprechende Model für Grimma,10 Wittenberg11 und Wurzen12 belegen. Für eine großflächige Verbreitung der großformatigen Serie sprechen Funde aus Danzig,13 Flensburg,14 dem Kloster Holbæk,15 Oschatz16 sowie aus Vilnius.17 Rückseitige Datierungen von zwei Modeln in die Jahre 1600 (Leipzig) und 1624 (Wurzen) sprechen dafür, die furnologische Nutzung der Bildfolge in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts zu verorten.
Die Reliefs von der Entengasse/Kirchgasse in Ettlingen gehören einer zweiten Bildfolge an, deren motivische Nähe zu den großformatigen Stücken aus Mitteldeutschland und aus dem Ostseeraum nicht in Frage gestellt werden kann. Allerdings lassen die vergleichsweise kleinen, hochrechteckigen oder auch quadratischen Kacheln im Gegensatz zu den mitteldeutschen Modeln und Ausformungen im Bildaufbau eine deutliche Nähe zu den Druckgraphiken von Cornelis Cort erkennen.
Bei der Gegenüberstellung mit der Ettlinger Kachel mit der Allegorie des Hörens lässt sich im Abgleich mit den Druckvorlagen eine Reduktion der Bildinhalte ablesen. Um die querrechteckige Graphik in ein annähernd quadratisches Format zu bringen, muss die sitzende Musikantin, die in der Graphik diagonal das gesamte Bildfeld für sich beansprucht, so umgestaltet werden, dass diese anstelle einer fast liegenden nun eine sitzende Position einnimmt. Die starken Vereinfachungen, die mit dieser Änderung einhergehen, finden unter anderem in der schlichter gebildeten Bekleidung sowie in der Beschränkung auf nur wenige Musikinstrumente ihren Ausdruck. Auch der Baum hinter der Musizierenden fällt der Vereinfachung des Bildes zum Opfer.
Der Serie der sitzenden Frauen süd- und südwestdeutscher Prägung sind in FurnArch insgesamt 75 Datensätze zuzuweisen. Zusammen mit den bislang publizierten Kacheln lassen sich 35 Fundstellen herausarbeiten. Acht davon sind als Produktionsorte ausgewiesen. Ähnlich wie bei den alttestamentarischen Propheten ist eine Streuung der Produktion erkennbar, die sich abgesehen von der Töpferei in Rothenburg ob der Tauber entlang einer Ost-West-Achse auf Höhe des Bodensees gruppiert. Die meisten Kacheln der Serie weisen ein rundes Innenfeld auf. Gelegentlich kommt als Rahmen ein rechteckig um das Innenfeld geführte Beschlagwerkleiste oder eine Arkade zum Einsatz. Die Ballung an Fundstellen in der Schweiz und in Liechtenstein ist dem Forschungsstand geschuldet. Die Fundpunkte Nettancourt im Westen und Velki Tabor im Osten machen auf das Phänomen aufmerksam, dass in Einzelfällen Kachelreliefs aus weiter entfernten Regionen auch über größere Distanzen hinweg verhandelt wurden. Ob dies auf einen entsprechenden Wunsch desjenigen zurückgeht, der den Auftrag zum Setzen eines solchen Ofens gab, bleibt unklar.
Wie viele vergleichbare manieristische Kachelreliefs, die im gesamten Süd- und Südwestdeutschland weit verbreitet waren, entzieht sich die Bildfolge mit den sitzenden Sinnen einer genaueren zeitlichen Zuordnung. Aufgrund der Deckungsgleichheit der Darstellungen mit der auf das Jahr 1561 datieren Kupferstichen von Cornelis Cort ist ein terminus post quem geben. Erst danach war es möglich, die Darstellungen dreidimensional für Kachelreliefs aufzubereiten. Deutlich problematischer erweist sich die Recherche zum terminus ante quem, also zu jenem Zeitpunkt, an dem es unmodern geworden war, solche Kacheln zu fertigen. Ein Model der Serie, das sich heute im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart befindet, ist rückseitig auf das Jahr 1715 datiert. Es sollte betont werden, dass man zu diesem Zeitpunkt die Negativform einer Kachel herstellte, aus der noch Jahrzehnte später entsprechende Ofenkeramiken ausgeformt worden sein dürften. Das Motiv erfreute sich nachweislich einer mehr als 150jährigen, furnologischen Nutzung. Einschränkend sollte angemerkt werden, dass sich nach 1689 keine entsprechenden Kacheln im Verbrauchermilieu archäologisch nachweisen lassen. In jenem Jahr gelangten auch die Fundstücke von der Entengasse/Kirchgasse in Ettlingen in den Boden. In Ravensburg dürfte Andreas Mauselin (nachgew. 1588-1619) die Bildfolge in seinem Sortiment geführt haben. Gleiches gilt in Montbéliard für den dortigen Töpfer Hans Petzsteiner (nachgew. 1580-1631). Dies lässt in Verbindung mit der zeitlichen Nähe zur Schaffung der graphischen Vorlagen lässt vermuten, dass der Schwerpunkt der Produktion der Serie der sitzenden Sinne süd- und südwestdeutscher Prägung am ehesten im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts gelegen haben dürfte.
Weitere Keramiken mit der Serie der Sinne als Sitzende
Weiterführende Literatur:
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© Harald Rosmanitz, Partenstein 2021
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- Leschke, Knötzele 2006, S. 150; Schallmayer 1981
- Übersichtlich zusammengestellt bei Ronnefeldt 2017, S. 269-275
- Franz 1981, Abb. 405-406
- In FurnArch enthält 542 Kachelreliefs aus der Serie der Sinne. Dies entspricht 0,72% des Gesamtbestands.
- Die Datierung der Serie findet sich in der rechten unteren Bildecke der Allegorie des Schmeckens
- Rosmanitz 1995
- Wegner 2019, S. 292-300
- Wegner 2019, S. 292-300
- Döry 2007, S. 193; Unteidig 2000, S. 63, Abb. 70
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- Wegner 2019, S. 292-300, S. 300, Abb. 128
- Strzyżewski 1993, Abb. 51
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